Retrogotts Sprachgewalt ist bekannt, jetzt erzählt der jüngste Sohn eines Holocaust-Überlebenden seine Familiengeschichte.
Bad Honnef (dani) - Beim Namen Kurt Tallert mag nicht unmittelbar eine Glocke losschrillen, Fans wissen aber selbstverständlich: So steht es geschrieben, im Ausweis von Retrogott. Dass er für "Spur Und Abweg" (DuMont, 240 Seiten, Hardcover, 24 Euro) auf seinen bürgerlichen Namen zurückgreift, verwundert nicht, spürt er in seinem Buch doch der Geschichte seines Vaters nach. Dessen Name wiederum dürfte, in Deutschrapkreisen und abseits davon, noch weniger vertraut klingen, dabei war das ein umtriebiger Mann:
Harry Tallert war Journalist, Publizist, und wie sich herausstellt, Poet. 1953 trat er in die SPD ein, für die er ab 1955 in der Bremischen Bürgerschaft saß. Von 1965 bis 1972 vertrat er seinen Wahlkreis im Deutschen Bundestag. 1990 wurde er mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. Eine bundesdeutsche Erfolgsgeschichte, möchte man meinen, blendete man die Zeit davor aus:
Als Sohn eines jüdischen Vaters und einer deutschen Mutter wurde Harry Tallert unter dem Naziregime als "Halbjude" drangsaliert und schikaniert. 1944 wurde er von der Gestapo verhaftet und bis zum Kriegsende in verschiedenen Lagern gefangen gehalten. Mit den körperlichen und seelischen Schäden, die diese Zeit hinterlassen hatte, musste nicht nur er selbst bis zu seinem Tod 1997 zurechtkommen. Auch seine vier Kinder, deren jüngstes Kurt 'Retrogott' Tallert ist, kämpfen bis heute mit den Schneisen, die die deutsche Geschichte in diese deutsche Familie schlug.
Das Unbegreifliche begreifen wollen
Tallert, der Jüngere, findet ganz außergewöhnliche Bilder, um die klaffenden Lücken in seiner Familiengeschichte spürbar zu machen, auch wenn seine eigene Unfähigkeit, vielleicht auch der Unwille, das Unbegreifliche begreifen zu müssen, schon im Titel durchklingt. Auf den aus Briefen, Aufzeichnungen und behördlichen Dokumenten rekonstruierten Spuren, besonders aber auf den sich immer wieder assoziativ eröffneten Abwegen, gedeiht die Erkenntnis: Was manchem (inzwischen) wie weit entfernte historische Begebenheiten aus dem Geschichtsunterricht vorkommen mag, hat an jedem einzelnen Tag Auswirkungen auf unser aller Gegenwart, keineswegs nur auf die des Sohnes eines Holocaust-Überlebenden.
Kurt Tallert beschreibt, teils so plastisch, dass man es körperlich zu spüren meint, wie die Schatten der Vergangenheit unentwegt ins Hier und Jetzt diffundieren, die Realität verschleiern und verändern. Ob das den Blick trübt oder, ganz im Gegenteil, für Klarsicht sorgt, lässt sich ohne weiteres gar nicht entscheiden. Tallert hat ohnehin keine Wahl, er lässt sich also voll und ganz ein auf die Konfrontation: mit der Vergangenheit, mit seinem Vater und dessen Traumata, mit sich selbst, mit dem Bedürfnis, zugleich aber dem eigenen (verständlichen) Widerwillen, sich mit einem Abgrund zu befassen, von dem man ja weiß: Starrt man zu tief hinein, starrt er zurück.
Es gibt keine Sicherheit im Absurden
Ist das Urvertrauen erst zertrümmert, das Absurde Teil des täglichen Lebens geworden, kann es keine Sicherheit mehr geben. Um Schuldzuweisungen geht es nicht, auch nicht darum, Erlösung zu finden oder gar Absolution zu erteilen. "Spur und Abweg" räumt vielmehr dem Uneindeutigen, Unentschlossenen, dem oft wahnsinnig unangenehmen Einerseits-Andererseits viel Raum ein. Kurt Tallert berichtet, soweit er herausfinden konnte, was seinem Vater und seinen Verwandten väterlicherseits zugestoßen ist, nicht analytisch sortiert oder wissenschaftlich distanziert. Er lässt vielmehr daran teilhaben, wie sich das Mosaik zusammensetzt. Trotz aller Hinterlassenschaften und Rechercheergebnisse bleibt das Bild am Ende aber voller Lücken, noch immer Fragment.
Gerade die vermeintlich banalen Alltäglichkeiten verleihen dem Erzählten gruselige Präsenz. Tallert scheibt zum Beispiel von den hanebüchenen NS-Vorschriften, das Netzteil eines Radios betreffend: Um den mit einer Arierin verheirateten, ergo "privilegierten Juden", der sein Großvater war, davon abzuhalten, das Gerät in Abwesenheit seiner Frau zu benutzen, musste sie auf behördliche Anordnung den extra ausgetauschten Stecker mit sich führen, wann immer sie das Haus verließ. Wüsste man nicht um die tödlichen Konsequenzen, man könnte glatt über die Absurdität lachen. Darf man das? Sollte, müsste man nicht sogar? Gleich die nächste Frage hinterher: Darf man auf dem Weg zu einem Besuch der Gedenkstätte Buchenwald im Speisewagen Bier trinken oder ist das so unangemessen, wie es sich anfühlt?
Einerlei, Gelächter wie Getränk bleiben einem ohnehin im nächsten Moment im Hals stecken, angesichts der zynischen Gefühllosigkeit, die aus dem Gutachten spricht, mit dem ein Arzt dem Großvater des Autors bescheinigte, seine zahlreichen körperlichen und seelischen Beschwerden "entsprechen durchaus dem Alter, sie sind durch die Verfolgung nicht entstanden und auch nicht richtunggebend verschlimmert worden". Vegetieren unter unmenschlichen Bedingungen im Vernichtungslager Theresienstadt, Zwangsarbeit, Todesangst ... wer könnte denn auch auf die Idee kommen, Herzbeschwerden, ein chronisches Blasenleiden und Depressionen rührten daher? Wo doch "die große Erfahrung der beiden Weltkriege (...) gezeigt" habe, "dass selbst schwerste Eindrücke und Erlebnisse verhältnismäßig gut und ohne wesentliche ungünstige Folgen für Kreislauf und Nervensystem überstanden werden." Hätten Sies gewusst?
Die Zeit heilt keineswegs alle Wunden
Die Haupterkenntnis, die sich aus diesem Buch gewinnen lässt, erscheint so grundlegend, dass sie fast banal wirkt: Das Böse marschiert nicht, es sickert ein, und nein, die Zeit heilt keineswegs alle Wunden. Manche schwären über Generationen hinweg. Wir täten also verdammt gut daran, sie gar nicht erst zu schlagen. In diesem Sinne dürfen wir die Gedichtzeilen, die Harry Tallert eineinhalb Jahre vor seinem Tod verfasste, als eindringliches Plädoyer für ein "Nie wieder!" interpretieren:
"Ich habe nicht glauben wollen
dass es so kommen könnte
Ich kann mir nicht verzeihen
dass ich Besseres glauben wollte
Weil ich Besseres glauben wollte
Habe ich Kinder
Verzeiht mir, meine Kinder
Aber kämpft"
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1 Kommentar
Was für eine Erkenntnis und was für ein Zusammenhang! Danke für den Buchtipp.