Roy Carrs Buch erinnert an die Zeit, als Rockstars noch keine ausgebildeten Marketingmanager waren, sondern sich auch mal gehen ließen.
London (giu) - Ein Standardinterview mit einem Musiker von Angesicht zu Angesicht läuft in der Regel unspektakulär ab. Man trifft sich in einem Raum, je nach momentanem Erfolg zwischen abgesiffter Backstage-Besenkammer und 5-Sterne-Suite, schüttelt sich die Hände, startet das Aufnahmegerät und legt los. Eine halbe Stunde später zeigt der Promoter auf die Uhr und der nächste Interviewer tritt ein. Plattenverkäufe anzuschieben hat etwas mit Fließbandarbeit zu tun.
Danach muss das Gespräch abgetippt und in eine lesbare Form gebracht werden. Der Ton landet dann in irgendeiner Schublade oder mittlerweile in einem Computer-Ordner, wo er verstaubt, bis er nicht mehr funktioniert oder beim nächsten Festplattencrash im Daten-Nirwana verschwindet.
Genau das ist schade daran, denn in diesem Fall gilt das lateinische Sprichwort umgekehrt: Scripta volant, verba manent. Einen Rockstar im O-Ton zu hören hat etwas Besonderes, vor allem, wenn es sich wie in diesem Fall um vergangene Tage handelt, nämlich um die 70er Jahre.
Nichtigkeiten mit vollem Mund
Das ist das Tolle an diesem Buch – das es nicht nur aus geschriebenen Erinnerungen besteht, sondern auch vier mit Interviews vollgepackte CDs enthält. Als Autor für New Musical Express und Melody Maker hatte Roy Carr Zugang zu den großen Namen der britischen Szene, als Musiker wurde er eher als Kollege und weniger als Journalist betrachtet.
So kam es, dass er nach John Lennons erstem und einzigen Solokonzert unter eigenem Namen eine Einladung vom Ex-Beatle höchstpersönlich erhielt, der ihm in seiner Suite sein Herz ausschüttete. Inhaltlich sind die meisten Antworten bekannt, nicht nur bei Lennon. Spannend ist jedoch die Erzählung zwischen den Zeilen.
So Mick Jagger, der Carr zum Mittagessen bei einem angesagten Italiener in London einlädt und dann Nichtigkeiten bei vollem Mund von sich gibt. Ein sehr ernster Cat Stevens in seiner neuen Wohnung, die gerade renoviert wird. Keith Moon, eloquenter Schlagzeuger von The Who, der so dicht ist, dass er kaum Sinnvolles von sich gibt.
Angriff auf Paul McCartney
Das interessanteste Tonzeugnis stammt von Phil Spector. Mitte der 70er Jahre versuchte Carr mehrere Wochen lang, den eigenartigen wie legendären Produzenten zu befragen. Ab und an, meist mitten in der Nacht oder in den frühen Morgenstunden, durfte er in dessen Villa antanzen, die eine gespenstische Ausstrahlung hatte. Wie auch Spector, der quälend langsam und oft auch kryptisch versuchte, die Fragen zu verstehen und zu beantworten. Selbst für Rock'n'’Roll-Standards ein durchgeknallter Typ.
Carr selbst setzt nicht auf Provokation, sondern geht auf die Interviewpartner ein und versucht, das Zepter unscheinbar in der Hand zu halten. Was ihm meist auch gelingt. Bei Paul McCartney geht er aber zum Angriff über. Warum er überhaupt noch Interviews gebe, fragt er ihn anlässlich eines Wings-Konzertes. "Damit ich die Leute treffe, die mich niedermachen. Dann kriegen sie ein Gesicht", antwortet der Ex-Beatle schlagfertig. "Ich weiß nicht, eigentlich macht es mir Spaß", fügt er dann hinzu. Was er über das Leben nach dem Ende einer Großband erzählt, sagt viel über die Erwartungen der Fans und den Druck des Erfolges aus.
Das eigentliche Buch – auf Englisch - ist mit vielen Fotos und Memorabilia-Abbildungen schön gestaltet. Das Vorwort wirkt etwas gekünstelt ("Die 70er Jahre endeten, wie sie begannen – gewalttätig". Auf welches Jahrzehnt bitteschön trifft das nicht zu?), die Hintergrundgeschichten zu den einzelnen Interviews sind aber unterhaltsam. Etwa, wenn Carr erzählt, wie er gemeinsam mit Keith Moon nach einem Konzert von The Who durchs Pariser Rotlichtviertel streunt.
Zugang zur Privatsphäre
Das einzige Manko des Werkes ist leider ein großes: Die Texte strotzen nur so vor Rechtsschreib- und Formatierungsfehlern. Offenbar ist das unscheinbare wie unverzichtbare Lektorat ausgefallen. Oder es wanderte die falsche Datei in die Druckvorlage. Auch inhaltlich gibt es den einen oder anderen Schnitzer. So heißt es im Vorwort, dass Bruce Springsteen "Born In The USA" 1975 veröffentlicht habe. Was natürlich Quatsch ist, denn das Album erschien 1984. Gemeint war "Born To Run". Der Titel klingt zugegebenermaßen ähnlich, aber solche Fehler dürften einem akribisch recherchierenden Journalist wie Carr nicht passieren.
Dennoch ist "A Talk On The Wild Side" ein empfehlenswerter Kauf. Ein Zeugnis aus den Zeiten, als Rockstars noch nicht abgeschirmte Idole und ausgebildete Marketingmanager waren, sondern sich auch mal gehen ließen und Zugang zu ihrer Privatsphäre gewährten. Es waren Zeiten, in denen die Spieler einer Nationalmannschaft bei der WM noch Kippen rauchen und verkatert Interviews geben konnten. Beides heute unvorstellbar.
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