Kurz nach ihrem Glastonbury-Auftritt verwandeln Big Thief die Fabrik mit Gitarren und Maultrommel im Gepäck in einen Saloon.

Hamburg (dük) - Von einem Geheimtipp kann man bei der US-amerikanischen Indie-Band Big Thief schon lange nicht mehr sprechen. Obwohl das Quartett gerade mal seit sechs Jahren aktiv ist, hat es sich mit "Masterpiece", "Capacity", dem Doppelschlag "U.F.O.F." und "Two Hands" 2019 sowie dem im Februar veröffentlichten "Dragon New Warm Mountain I Believe In You" ganz leichtfüßig und dem eigenen Sound treu ergeben in die Herzen vieler Indie-, Folk-, Rock- und Alternative-Fans gespielt.

Nachdem ihre "Two Hands"-Tour Big Thief im März 2020 gerade noch Köln, Hamburg und Berlin geführt hatte, bevor die Pandemie sämtliche Konzertpläne durchkreuzte, mussten hiesige Fans mehr als zwei Jahre auf eine weitere Live-Show warten. Am Freitag war es in Hamburg endlich soweit. Wenige Tage nach ihrem Auftritt auf dem legendären Glastonbury-Festival gaben Big Thief in der Fabrik in Altona 17 Songs vor gut 700 Besuchern zum Besten.

Auf Folk-Fingerpicking folgt markerschütterndes Gitarren-Geheul

Gegen 21 Uhr betreten Adrianne Lenker (Gesang, Gitarre), Buck Meek (Gitarre), Max Oleartchik (Bass) und James Krivchenia (Schlagzeug) die kleine aber feine Bühne der Fabrik. Von außen dank des Lastkrans eher einem Industriegebäude als einem Kulturzentrum ähnelnd, wirkt auch die Architektur im Inneren der Fabrik mit den zwei Stockwerken und den zahlreichen Holzbalken ungewöhnlich für eine Konzerthalle: "This is the most narrow rectangle I've ever been in but it's cool", stellt Sängerin Adrianne Lenker belustigt fest. Sowohl direkt vor der Bühne als auch auf dem oberen Stockwerk verteilt lauschen die Fans den melancholischen Akustik-Klängen des ersten Songs "Terminal Paradise".

Wer die Band nicht kennt und nur von Bekannten mitgeschleppt wurde, hat sich nun womöglich auf einen ruhigen Abend eingestellt, wird aber bereits mit dem zweiten Song eines besseren belehrt: "Contact" lässt die E-Gitarren aufheulen, bis die Balken biegen. Adrianne Lenkers Organ kann nicht nur sanft und gefühlvoll klingen, sondern einen ganzen Saal bis in die letzte Ecke durchdringen. Das zeigen auch das ähnlich laute und rockige "Not" oder das später folgende "Flower Of Blood", bei denen die vier alles aus ihren Instrumenten rausholen: kein Folk-Fingerpicking fürs Lagerfeuer, stattdessen schremmelnde Gitarren und pure Energie.

Ein aufmerksames, aber eher bewegungsarmes Publikum am Ende der Arbeitswoche

So ganz auf das Publikum übertragen wird diese Energie aber nicht, hört es doch über weite Strecken eher andächtig zu, anstatt mitzutanzen oder zu singen. Dem Anschein nach handelt es sich auch eher um die arbeitende Bevölkerung, die sich nach einer harten Woche an diesem Freitagabend in der Fabrik eingefunden hatte, als um Studenten, für die ein Konzert nur den Auftakt in eine lange Partynacht bedeutet. Handys, an deren Anblick man sich bei Konzerten bekanntermaßen bereits gewöhnen musste, sind übrigens so gut wie überhaupt nicht zu sehen.

Das wunderschöne "Certainty", das schon in der Studioversion viel zu schnell vorbei geht, hinterlässt auch live den Wunsch, es gleich noch einmal zu hören. Und dann noch einmal. Und noch einmal. Geht aber natürlich nicht, denn der Abend ist bereits fortgeschritten und es gibt schließlich auch noch andere Songs. Überhaupt zeigt erst der Blick auf die Stücke, die an diesem Abend nicht gespielt wurden, was für eine Qualität und Breite das Material der Amerikaner aufweist: Klassiker wie "Paul", "Real Love", "Shark Smile" oder "Masterpiece" und neuere Singles wie "Simulation Swarm" oder "Change" bekommt das Publikum nicht zu hören. Stattdessen setzt das Quartett auf Deep Cuts, die vor allem Adrianne Lenker und ihre Stimme in den Fokus rücken: "Promise Is A Pendulum" zum Beispiel startet mit einem minutenlangen Akustikgitarren-Intro und kommt auch gut ohne Adriannes drei Bandkollegen aus.

Die Fabrik wird zum Saloon

Ein besonderes Highlight: der Auftritt ihres Bruders Noah. Im Cowboyoutfit betritt dieser für den Song "Spud Infinity" die Bühne und schon das erste Geräusch, das er seiner Maultrommel entlockt, sorgt für frenetischen Beifall. Für ein paar Minuten verwandeln Big Thief die Fabrik in einen amerikanischen Saloon und sorgen nach dem melancholischen "Promise Is A Pendulum" wieder für ausgelassene Stimmung.

Die wohl konstanteste zeitgenössische Indiefolk-Band hält live, was ihre gefeierten Alben versprechen. Wer die Chance hat, die Gruppe um Adrianne Lenker auf Tour zu erleben, sollte sie nutzen - zum Beispiel heute Abend in Berlin. Und wer kein Ticket mehr erwischt hat: die nächste Tour kommt bestimmt.

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laut.de-Porträt Big Thief

Kann Songschreiben eine Form der Therapie sein? Adrianne Lenker, Sängerin und Gitarristin der Indie-Band, hätte auf jeden Fall eine Menge aufzuarbeiten.

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