laut.de-Kritik
Atmosphäre statt Tobsucht: Die letzte Großtat des klassischen Line-Ups.
Review von Gil BielerNur wenige Menschen machen sich mehr Gedanken über Slayer als D.X. Ferris. Der amerikanische Musikjournalist hat zwei Bücher über die thrashigste der großen Thrash Metal-Bands geschrieben und den Podcast "Talkin' Slayer" lanciert, in dem er einst erklärte: Das eine Slayer-Album, das er im Auto jederzeit auf Knopfdruck bereit haben müsse, sei "Seasons In The Abyss". Nicht das legendäre Debüt "Show No Mercy" von 1983, nicht der in seiner 29-Minuten-Rasanz noch immer unerreichte Vollabriss "Reign In Blood", nein: das fünfte Studioalbum. Und verdammt recht hat der Kerl.
"Seasons In The Abyss" wurde 1990 veröffentlicht, zu einer Zeit, als sich die Aussichten für Thrash-Metal bereits eintrübten. Metallica waren auf dem Absprung in den Kommerzrock, neuere Stilformen wie Death-Metal und Grindcore begannen den einst so rabiaten Thrashern den Rang abzulaufen. Von außen rollte die vernichtende Grunge-Welle heran. Und auch innerhalb des Slayer-Camps hatten die Animositäten nach Jahren des strapaziösen Tourlebens prekäre Ausmaße angenommen. Trotzdem dokumentiert "Seasons" Slayer in Topform: Tom Araya, Kerry King, Jeff Hanneman und Dave Lombardo gelang die letzte Großtat, die dem klassischen Line-up vergönnt war. Kurz darauf warf Lombardo die Schlagzeug-Sticks hin, und obwohl es später noch einmal zur Reunion kam, war die goldene Ära von Slayer nach "Seasons" für immer vorbei.
In den Jahren vor dem Release hatten Luzifers eifrigste Hohepriester einen famosen Sprint hingelegt. Erst 1986 hatten die Kalifornier unter Federführung eines gewissen Produzenten-Neulings namens Rick Rubin mit dem besagten "Reign In Blood" einen neuen Goldstandard für Aggressivität gesetzt. Die perfekte, in Blut eingekochte Essenz des Thrash. Ein Teufelsritt, den Slayer unmöglich überbieten konnten. Was sie auch gar nicht versuchten.
Auf dem Folgewerk "South Of Heaven" überraschten sie 1988 daher mit einem angepassten Sound: Plötzlich war da mehr Abwechslung im Songwriting auszumachen, mehr Groove, mehr Atmosphäre, weniger Temporausch. Ein cleverer Schachzug, gleichwohl ein Wagnis, denn obschon es kein schlechtes Album war, weist es Schwächen auf. Die junge Band konnte sich zum ersten Mal nicht mehr steigern. Doch Slayer blieben dem eingeschlagenen Kurs treu – und behielten recht.
Mit "Seasons In The Abyss" zeigten sie der Welt endlich auf, welche Vision sie ursprünglich im Sinn hatten. Die Platte vereint die rohe Aggression von "Reign In Blood" mit dem vielfältigeren Ansatz von "South Of Heaven", jedoch auf konsistenterem Niveau. Die Inspiration schoss ihnen nur so in die Finger, Füße und Gedärme, jedes Bandmitglied war in Topform: Die Gitarristen Hanneman und King packen die zehn Songs randvoll mit einprägsamen, genialen Riffs und haben jederzeit spooky Melodien zur Hand, Sänger/Bassist Araya, dieser zeternde Prophet des Untergangs, bringt sich als Songwriter so stark ein wie nie in der Bandkarriere, und Lombardo zementiert seinen Ruf als Doublebass-donnernder Drumgott.
Allein schon Albumstruktur: Was machte denn schon "Reign" zu einem solchen Überalbum? Dass mit "Angel Of Death" und "Raining Blood" zwei Killer-Tracks am Anfang und Ende stehen, welche die Raserei wie Buchstützen einfassen. Dasselbe gelingt Slayer auf "Seasons": Der Frontalangriff "War Ensemble" zu Beginn und der epische, düstere Titeltrack als Abschluss, dazwischen kein einziger Filler. Besser geht's nicht.
Thematisch setzen Slayer ihren Reifeprozess ebenfalls fort. Die fantastischen Gewaltfantasien über Satan und Dämonen sind passé, stattdessen werden in den Lyrics zunehmend die Ungeheuerlichkeiten der realen Welt behandelt. "War Ensemble" setzt hier bereits den Ton: Inspiriert von einem Buch über den Zweiten Weltkrieg, spuckt Araya Zeilen über den Irrsinn, der Soldaten abverlangt wird, aus: "Propaganda death ensemble / Burial to be / Corpses rotting through the night / In blood-laced misery" eröffnet er das Album richtig angepisst und steigert sich im Refrain in die Passage: "The final swing is not a drill / It's how many people I can kill." Das markerschütternde "WAAAAAAAAAAAR!" in der Songmitte: ikonisch.
Musikalisch inszenieren Hanneman und King das Kriegsgemetzel mit einer nie nachlassenden Salve mächtiger Riffs, Lombardo sorgt für den passenden Unterbau: Mal klingt sein Spiel nach einem Sperrfeuer, mal erinnern punktgenau gesetzte Schläge an einschlagende Bomben, im Refrain gleicht der stampfende Beat marschierenden Truppen. "War Ensemble" ist ein fünfminütiges Massaker, in dem sich die Leichenberge auftürmen. Als die US-Truppen 1991 in den Zweiten Golfkrieg zogen, erhielt der Track unverhofft neue Dringlichkeit.
"Blood Red" ist zwar nicht zum Klassiker selben Kalibers avanciert, schafft aber das Kunststück, neben dem furiosen Opener nicht ganz flach auszuschauen. Mit gemäßigtem Tempo und düsterer Stimmung nehmen Slayer hier den Faden von "South Of Heaven" auf. Durchatmen. Das Strophenriff erhält Zeit zur Entfaltung, wobei jedoch das Soloduell von Hanneman und King das prägende Element bildet. Tom Araya beschwört in seinem für die Slayer-Frühphase typischen Halbgesang unheilvolle Bilder hinauf. Den Text hat er selbst verfasst – insgesamt gehen die Lyrics von sechs Songs auf sein Konto, wobei er zweimal mit Hanneman zusammenspannte. D.X. Ferris spricht in seiner Bandbiografie nicht umsonst von Slayers 'Tom-Album'.
Das anschließende "Spirit In Black" behält den düsteren Vibe bei und erhöht die Schlagzahl nur geringfügig. Der diabolische Groove, den Lombardo immer wieder mit kurzen Wirbeln variiert, nagelt die Hörer:innen fast unmerklich fest. Fiese Kiste. Erst nach einem der gewohnt irre kreischenden Gitarrensoli schlägt die Stimmung plötzlich um: Lombardo wetzt davon, die Gitarren hinterher - wir sind wieder voll drin im Geschwindigkeitsrausch. Mit einem grandios dissonanten Gitarrenlauf setzt King ein letztes Ausrufezeichen in diesem beeindruckenden Track. Überhaupt finden sich auf "Seasons" ein paar der besten Soli, die King und Hanneman verbrochen haben.
Die Lyrics von "Expendable Youth" behandeln Ganggewalt in Los Angeles, was den Sänger aus gutem Grund interessierte: "I grew up in a gang neighborhood, so I had an idea of the mentality", erklärte Araya dazu. Die Jugendgewalt in der Stadt bildete eine Steilvorlage für diesen Stampfer, in dem schon das allererste Riff sofort hängenbleibt, das Lombardo zunächst nur mit der Bassdrum begleitet. Der Refrain lebt von der unheilvollen Darbietung Arayas: "Expendable youth / Fighting for posession / Having control / A principal obsession / Rivalry and retribution / Death, the only solution." Atmosphäre geht hier vor Gewaltexzess. Slayer wollen mehr sein als ein wild um sich tretendes One-Trick-Pony.
"Dead Skin Mask" ist noch so ein Gänsehaut-Track, eine Großtat von Hanneman/Araya. Ein unheilvolles, langsames Riff leitet den Track über Ed Gein ein, jenen Mörder, der auch den Horrorstreifen "Texas Chainsaw Massacre" und den Roman "Psycho" beeinflusst hat. Was wären die USA nur ohne ihre Faszination für psychopathische Gewalttäter. Der Slayer-Song zum Thema wächst sich dank Doublebass-Geratter und Riffsalven zu einem so verstörenden wie betörenden Midtempo-Track aus. Wenn im Schlussteil Rufe und Schreie eines Kindes hinzukommen, das zunehmend verzweifelt an die Gnade von 'Mr. Gein' appelliert, stellen sich einem die Nackenhaare auf. (In Wahrheit wurde die Stimme eines Freundes der Band hochgepitcht.) Hanneman bezeichnete "Dead Skin Mask" einmal als seinen Lieblingstrack des Albums und meinte völlig zurecht: "The riff is just haunting."
Slayer in der goldenen Ära, das war wie ein Basketballteam mit vier Michael Jordans, sagte Overkill-Schlagzeuger Ratt Skates einmal ehrfürchtig über die damaligen Tourkollegen. Rick Rubin brauchte im Studio als Produzent einzig sicherzustellen, dass auch ja kein Schweißtropfen verloren ging. Wobei wir es aber gemäß Kerry King primär Co-Produzent Andy Wallace zu verdanken haben, dass der erdige Sound des Albums sich so gut hält. Rubin sei nur sporadisch im Studio aufgetaucht. Egal, das Allstar-Team wusste auch ohne den rauschebärtigen Coach, wo es langgeht.
"Hallowed Point" stellt sicher, dass auch die B-Seite furios und todesschnell startet. Balsam für die "Reign In Blood"-Seele. Die Band geht erst im letzten Drittel vom Gaspedal, wo sich King und Hanneman in überraschend kultivierten Lead-Fingerübungen verlieren und damit erneut eine ominöse Stimmung kreieren. Thematisch stellt sich eine weitere Parallele zum Eröffnungstrack ein, bezeichnen hollow points doch einen Munitionstyp mit verhängnisvoller Aushöhlung, Araya erklärt das so: "It can turn flesh into confetti."
Bam-bam-bam-bam: Lombardo zählt auf seinen Trommeln einen weiteren Midtempo-Track ein. "Skeletons Of Society" bietet mit seinem sägenden Hauptriff Nacken-Stimulus vom Feinsten. Für den Refrain stimmen Gitarren und Gesang sogar außergewöhnlich klare Klänge an, ganz kurz nur, was ihn aber sofort fix im Oberstübchen verankert. "Fragments of what used to be / Skeletons of society": Die Postapokalypse-Szenerie der Lyrics bleibt schemenhaft, dank dem interessant arrangierten Schlusspart hält der Spannungsbogen bis zuletzt.
"Temptation" bringt dann die Aggroriffs zurück und irritiert beim erstmaligen Hören mit einem verschrobenen Gesangspart: Tom Araya klingt, als liefere er sich ein Wortgefecht mit einem mysteriösen Doppelgänger. Das geht auf einen Studiopatzer zurück: Araya und King waren sich uneins, wo die Gesangslinien am besten passen, weshalb der Frontmann zwei Versionen einsang. Als sie Rick Rubin um seine Meinung fragen wollten, spielten sie irrtümlicherweise beide Spuren gleichzeitig ab. Der Produzent gab unbeeindruckt einen Daumen hoch und die Band beschloss, alles so zu lassen. Leider gleitet der Song abgesehen von dieser Eigenart ins Unspektakuläre ab. Erstmals verliert das Album etwas von seinem Momentum.
Der Schlussspurt leistet das stärkere "Born Of Fire": Allein im zehnsekündigen Auftaktgewitter holzt Lombardo einen ganzen Wald ab, die Gitarrensaiten glühen hochrot, jetzt setzt es wieder furioses Thrash-Gewitter. Immer wieder schön, wie all die Raserei in der Mitte plötzlich zum Stillstand kommt und nur drei High-Hat-Schläge ein frühzeitiges Ende verhindern. Wäre ja gelacht, könnten Hanneman, King, Lombardo und Araya den Track nicht noch einmal schön gepflegt eskalieren lassen. Gesagt. Getan. Gewaltiger Abriss.
Bleibt als krönendes Finale der Titeltrack. Fast schon Sludge-mäßig träge und mit sechseinhalb Minuten untypisch lange für Slayer, dürfte "Seasons In The Abyss" viele Fans auf dem falschen Fuß erwischt haben. Aber die Komposition fegt alle Zweifel beiseite. das Intro mit langgezogenen Gitarrenklängen. Lombardos virtuose Fills, für die allein er eigentlich Songwriter-Credits verdient hätte (mit ein Streitpunkt, weshalb es zum Split kam). Das Clean-Guitar-Picking. Echt ein Verbrechen, dass dieser stimmungsvolle Einstieg live manchmal einfach weggelassen wurde. Doch auch der Hauptpart ist natürlich eine Wucht. Der hypnotisierende Gesang von Tom Araya: "Close your eyes, look deep in your soul / Step outside yourself and let your mind go / Frozen eyes stare deep in your mind as you die." Zusammen mit dieser epischen Akkordfolge im Refrain ergibt sich eine Klangcollage tiefgreifender Hoffnungslosigkeit. Einer der besten Slayer-Tracks überhaupt und ein Geniestreich des viel zu früh verstorbenen Jeff Hanneman.
Was. Für. Ein. Album. Man kann die Bedeutung von "Seasons" gar nicht überbewerten. Es stellt sicher, dass die Neunziger in der Slayer-Diskografie nicht völlig durchwachsen dastehen. Es war zudem der letzte richtige Team-Effort, erinnerte sich Araya Jahre später im Revolver-Magazine, sie hätten im Studio noch richtig an den Songs gefeilt und gearbeitet. "Es war das letzte Album, bei dem ich mich wirklich als Teil des Songwriting-Prozesses fühlte und nicht einfach Songs vorgesetzt bekam, die bereits fertig waren." Als langjähriger Fan glaubt man, den positiven Effekt herauszuhören. Je weniger Kollaboration, desto flacher das Album. Looking at you, "Repentless".
Auch die Band weiß um die Ausnahmeleistung, die ihr hiermit geglückt ist: Es ist kein Zufall, dass Slayer auf ihren Reunion-Konzerten in diesem Jahr ganze sechs "Seasons"-Songs zum Besten gaben. Die Platte dominierte die Setlist wie keine andere, weil Hymnen wie "War Ensemble", "Dead Skin Mask", "Born Of Fire" oder der übergroße Titeltrack einfach nie an Strahlkraft einbüßen. "Seasons In The Abyss" ist nicht das aggressivste Album der Band, aber das vielschichtigste, kompositorisch stärkste und ja, auch das zugänglichste. Na und? Die Sellout-Rufe von damals sind im Lauf der Jahrzehnte von einem anderen Schlachtruf verdrängt worden: "WAAAAAAAAAR ENSEEEEMBLE!"
In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.
2 Kommentare mit 4 Antworten
Erst der krachende Vorgänger, und dann der noch einen Ticken bessere Nachfolger. 5*
wobei Hannemann der mit Abstand bessere Songschreiber war. Warum sie auf Repentless so gut ablieferten, passt da logisch erklärbar nicht zu. Aber vielleicht war einfach noch genug Material von Hannemann zum verwursten da. Oder King hat wirklich eine gute Stunde gehabt
interessant auch, was Lombardo zu den Tantiemen auf YT sagte.... ob das Management nun die Band abgezockt hat, oder ihm wichtige Einnahmen vorenthalten und damit Geldzahlungen geringer ausfielen, kann nur spekuliert werden. Auf jeden Fall ist Dave der beste Metal Drummer seiner Zeit.
"Auf jeden Fall ist Dave der beste Metal Drummer seiner Zeit."
Wieviele kennst du denn so?
Lars Ulrich war es schonmal nicht.
Und ja, das war für mich schon immer das Top Slayer Album mit dem sie mich nochmal zurückgeholt haben, nachdem ich schon keine Lust mehr auf den Sound hatte.
Beide Alben, also SOH und Seasons höre ich immer noch regelmäßig. Reign ist einfach DAS Thrash Album und kommt bei besonderen Zeiten bei mir zum Einsatz . SOH war leider aus meiner Sicht immer sehr unterbewertet. Bis auf einen Song liebe ich das Album.
Danach ging bei mit Slayer eigentlich nichts mehr.