laut.de-Kritik
Fake wie ein vorgetäuschter Orgasmus.
Review von Michael EdeleNachdem Nightwish mit ihrer neuen Sängerin Anette Olzon einen Einstand nach Maß hingelegt haben, war es höchste Zeit, dass die geschasste Tarja mit "My Winter Storm" nachzieht. Man durfte gespannt sein, ob sich die Sängerin von ihrer ehemaligen Band weg bewegt, oder ob sie sich einfach ein paar ähnlich klingende Songs auf den Leib schreiben lässt.
Um's vorweg zu nehmen: beides ist der Fall. Auf es finden sich sowohl Tracks, die genauso gut von Nightwish stammen könnten, als auch Sachen, die sich deutlich mehr Klassik und Rock annähern. Aber zu den Song im Einzelnen. "Ite, Missa Est" kommt im Gewandt eines klassischen Intros daher, mit Streichern und Bläsern und geht nahtlos in die Single "I Walk Alone" über, das sehr auf klassische Instrumente und Drums baut, während die Gitarre erst zum Refrain hin an Bedeutung gewinnt, sich in den Strophen aber dezent im Hintergrund hält. Das klingt sehr orchestral, besitzt Soundtrack-Charakter und ist erwartungsgemäß nicht weit von Nightwish entfernt.
Bei "Lost Northern Star" darf der ehemalige Farmer Boys-Klampfer Alex (Dacia/Tieflader) seine Klampfe in den Vordergrund stellen, doch die Arrangements sind eindeutig eher klassischer denn rockiger Natur. Auch hier klingt die Nähe zum alten Arbeitgeber durch. Das klassische Intermezzo "Seeking For The Reign" mit einer wunderschönen und todtraurigen Violinenmelodie, geht direkt in "The Reign" über. Der Song baut wiederum auf klassischen Instrumenten auf. Zur Mitte des Songs setzen Tribaldrums ein, die jedoch nicht so recht passen wollen und die die musikalische Steigerung leider nicht fortsetzen.
Das nächste - dieses Mal nur aus atmosphärischen Synthies bestehende - Intermezzo "Escape Of The Doll" leitet in "My Little Phoenix" über. Dabei handelt es sich um eine geradezu typisch Nightwish-Nummer, von der klassischen Inszenierung bis hin zu den Gitarren. Das folgende "Boy And The Ghost" startet als Klavier Ballade, in die später zwar harte Gitarren, Drums und bombastische Chöre einsetzen, die aber letztendlich wieder zum reduzierten Klavierspiel mit Tarjas Stimme zurückkehrt. Die Sängerin zieht hier alle Register ihres Könnens.
"Sing For Me" hat auf den ersten Blick mit dem bekannten Track aus Phantom der Oper nichts zu tun bedient sich aber ähnlicher Elemente und Strukturen. Das ihrem Mann gewidmete "Oasis" beginnt wieder sehr soft mit Klavier und einer leicht orientalischen Flötenmelodie. Zum finnischen Text gesellen sich nach und nach ein paar Streicher und machen den Track zu einer ganz hübschen Ballade. Das Alice Cooper-Cover von "Poison" hätten sie sich aber lieber sparen sollen. Die ist nämlich beinahe genauso grausam, wie die unsägliche Dancefloor-Nummer von vor ein paar Jahren.
Die nächste (fast) reine Klassiknummer (mit ein paar Alibidrums und ein wenig Bass) folgt mit "Our Great Divide". Die Ballade ist nicht schlecht gelungen, klingt aber ein wenig nach dem Soundtrack von "Das Letzte Einhorn". Etwas kitschig eben. Mit dem jauligen Intro "Sunset" geht es direkt in "Damned And Devine" über, das nach einem ruhigen und reduzierten Einstieg mit zahlreichen Sopranpassagen und Harfenklängen los legt. Zwar deutet der Mittelteil einen richtigen Ausbruch an, doch das ist genauso Fake wie ein vorgetäuschter Orgasmus.
Rockiger gibt sich da schon "Die Alive", das Alex ein wenig mehr Raum an der Klampfe lässt. Der Track wartet dabei wieder mit sehr opulenten und dramatischen Orchesterarrangements auf. Das balladeske "Minor Heaven" präsentiert sich im typischen Nightwish-Gewand und kramt tief in der Kitschkiste. Als hätte er die Schnauze endgültig voll, fährt Alex in "Ciarán’s Wall" ein paar Riffs auf, die genauso gut von den Farmer Boys stammen könnten. Das bricht deutlich aus dem restlichen Programm aus und geht mit Abstand am härtesten zur Sache. So ganz stimmig ist die Nummer letztlich doch nicht, zumal der Gesang am Ende ziemlich nervt. Die Gitarren-Ballade "Calling Grace" kommt zum Abschluss erfreulich unkitschig daher.
Mit "My Winter Storm" hat sich Tarja ein paar Songs richtig gut auf Leib und Stimme schneidern lassen. Ihre Fans sollten sich eigentlich rundum glücklich und zufrieden zeigen. Im Vergleich zur Scheibe ihrer Ex-Band - der einfach nicht ausblieben KANN - haben die mit "Dark Passion Play" die Nase aber doch ein wenig weiter vorn.
19 Kommentare
Schöne ehrliche Rezi, gefällt mir.
Persönlich gefällt mir das Album sehr gut, wenn es auch einige Zeit gebraucht hat um sich bei mir einzuschmeicheln. Inzwischen bin ich auch der Meinung, dass es erstens kein Stoff für hintergrundgedudel ist, sondern anspruchsvoller. Es will mit muse genossen werden, am besten abends bei einem guten Glas Rotwein, wenn es draßen Kalt und ungemütlich ist.
Zweitens würde ich das Album nicht als Rock- oder Metalalbum bezeichnen wollen. Es ist wohl eher ein klassicher Filmsoundtrack mit Rockanleihen, wofür auch die teilweise etwas uneingängigen Melodiebögen und Score-Stilmittel wie Geräusche usw. sprechen. So gesehen kann man es eingentlich nicht mit einem klassichen Rock- bzw. Metalalbum vergleichen.
Man könnte quasi sagen, dass man hier einen Soundtrack für einen Pseudofilm hat, wofür ja auch die verschedenen Charaktere sprechen, die Tarja im Booklett verkörpert. Mir gefällts jedenfalls wunderbar, aber mir ist auch klar, dass viele Metalfans damit wohl nicht wirklich was anfangen können.
die single finde ich eigentlich gar nicht so schlecht...video ist auch sehr gelungen- hör's mir mal an, auch wenn ich so zeug i. d. R. nicht höre.
Joar, Rezension kann man so stehen lassen. Ich hab mir schon gedacht, dass My Winter Storm nicht mehr als 3 Punkte bekommt, keine Ahnung warum =)
Mir persönlich gefällt die CD eigentlich ganz gut. Die Single ist ein verdammter Ohrwurm, ungefähr so wie Amaranth von Nightwish. Sicherlich hat die CD auch schwächere Songs, aber auf wie wenig Alben findet man sie nicht? Aber insgesamt bin ich doch ganz glücklich damit. Ich finde es gut, dass sie nicht plötzlich ganz andere Musik macht als zu Zeiten, wo sie noch Sängerin von Nightwish war. Ihre Stimme passt eben prima zu solcher Musik. Ja, ich bin so einer, der Nightwish vor allem wegen ihrer (ehemaligen) Stimme mag, und darum muss ich dem Eddy eigentlich nur in der Hinsicht widersprechen, dass ich My Winter Storm vor Dark Passion Play einordne.
Du hast es dir heute erst angehört und findest es immer noch sehr ok?
Ich habe es mir im Laufe der letzten Monate einige Male angehört und finde es (immer noch) nicht wirklich berauschend.
Ja, und Nightwish spielen tatsächlich nichts anderes als Pseudogitarrenriffs, aufgesetzt und billig.
@Jan Dilba (« Ja, und Nightwish spielen tatsächlich nichts anderes als Pseudogitarrenriffs, aufgesetzt und billig. »):
hältst du nightwish wirklich für eine gute band?
nein, hab sie mir seit langer zeit erst wieder angehört, nachdem der preis der cd radikal gesenkt wurde. (aber trotzdem nicht gekauft )
@Screwball (« @Jan Dilba (« Ja, und Nightwish spielen tatsächlich nichts anderes als Pseudogitarrenriffs, aufgesetzt und billig. »):
hältst du nightwish wirklich für eine gute band? »):
Ich halte Nightwish zumindest für weit weniger schlecht, als sie oft dargestellt werden. Sie haben auf jeden Fall ihren ureigenen und (fast) unverwechselbaren Stil. Gitarrentechnisch sind sie nach meiner Ansicht nicht gerade die besten Saitenzauberer, aber ihre Riffs sind dennoch nicht von schlechten Eltern. Die ersten 3 Alben gefallen mir heute noch sehr gut. Und "Nemo" (der Track, nicht das gesamte Album) ist ein grenzgenialer Song, der so -und nur so- in der Synthese Tarja-Nightwish entstehen konnte.
@Screwball (« nein, hab sie mir seit langer zeit erst wieder angehört, nachdem der preis der cd radikal gesenkt wurde. (aber trotzdem nicht gekauft ) »):
Aha, jetzt wird ein Schuh draus.