laut.de-Kritik
Der bittersüße Abgesang auf die Britpop-Ära.
Review von Alexander KrollWer hat die Britpop-Battle jetzt eigentlich gewonnen? Im Sommer 2025, genau dreißig Jahre nachdem sich Blur mit "Country House" im UK-Chart-Showdown gegen Oasis' "Roll With It" durchgesetzt haben, scheint es eine Wendung zu geben. Während der Reunion-Tour der Oasis-Brüder meldet sich ausgerechnet der einstige Erzrivale Damon Albarn mit einem überraschenden Zugeständnis. Im Gespräch mit dem Boulevard-Blatt "The Sun" erklärt der Blur-Frontmann, dass Oasis die klaren Gewinner jenes Wettstreits seien, der Mitte der 90er die Musikwelt in Atem gehalten hatte: "Ich denke, wir können ganz offiziell sagen: Oasis haben die Schlacht, den Krieg, die ganze Kampagne – einfach alles – für sich entschieden".
Was aber, wenn die Gleichung doch nicht so einfach aufgeht? Was, wenn weder Oasis noch Blur als Britpop-Könige durchgehen? Und übrigens auch nicht Pulp, Suede oder Supergrass? Stattdessen hat vielleicht eine Band die Goldmedaille verdient, die es Oasis 1993 ermöglicht hat, als Support-Act aufzutreten. Eine Band mit einem Frontmann, den Noel Gallagher im Booklet zu "(What's the Story) Morning Glory?" ausdrücklich als Genie anpreist und ihm den Song "Cast No Shadow" widmet. Eine Band namens The Verve, die – kurz nachdem die Gallagher-Brüder den Britpop-Hype mit ihrem überladenen Drittwerk "Be Here Now" an seine Grenzen bringen – meisterlich dafür sorgt, der Musikströmung einen monumentalen und ungewohnt spirituellen Abgesang zu bescheren.
"Urban Hymns" ist ein Aufstieg aus der Asche. Bei den Aufnahmen zu ihrem zweiten Album "A Northern Soul" waren The Verve an einem Tiefpunkt angelangt. All die Ambitionen, die die vier Schulfreunde aus der nordenglischen Industriestadt Wigan seit 1990 in psychedelischen Jamsessions zelebriert hatten, waren im Streit und unter Ecstasy erbarmungslos zusammengekracht und hatten im August 1995 zur Auflösung der Band geführt. Doch die Trennung währt nicht lange. Nur wenige Wochen vergehen, bis der Sänger und Songwriter Richard Ashcroft an neuem Material arbeitet und die Verve-Mitglieder Simon Jones am Bass und Peter Salisbury am Schlagzeug wieder zurückholt.
Zusätzlich wird speziell für "Urban Hymns" der befreundete Keyboarder Simon Tong verpflichtet. Doch perfekt ist die Verve-Reunion erst, als sich Ashcroft zu Beginn des Jahres 1997 dazu entschließt, seinen vertrauten Counterpart, den Gitarristen Nick McCabe, zur Rückkehr zu überreden. Damit gewinnt die Gruppe jemanden zurück, der – wie der amerikanische Rolling Stone ein Jahr später schreiben wird – "sechs Saiten klingen lassen konnte, als stünden fünf Gitarristen gleichzeitig auf der Bühne, und der die Luft mit peitschenden Wirbeln aus Verzerrung und Hall zum Beben brachte".
"Urban Hymns" wird zum überragenden Erfolg. Nachdem The Verve mit ihren Alben "A Storm In Heaven" und "A Northern Soul" schon für Aufmerksamkeit in den Indie- und Kritiker-Hitlisten sorgten, feiern sie mit ihrem Drittwerk den nationalen und internationalen Durchbruch. Nach der Entthronung von "Be Here Now" in den englischen Charts bleibt "Urban Hymns" fünf Wochen an der Spitze. Im Anschluss an kurze Verschnaufpausen stößt das Album auch Céline Dions "Let's Talk About Love" und den "Titanic"-Soundtrack vom Gipfel, belegt sieben weitere Wochen die Pole-Position und bleibt insgesamt 162 Wochen in den Top 100. Weltweit verkauft sich das Album über zehn Millionen Mal. In Großbritannien zählt es mit über 3,3 Millionen verkauften Exemplaren und elffachem Platin zu den 30 erfolgreichsten Longplayern aller Zeiten.
Mit "Urban Hymns" gelingt The Verve das Kunststück, den Rausch ihrer frühen Werke zu bündeln und mit einer erhabenen Pop-Poesie zusammenzuführen. Ashcroft, den die britische Musikpresse wegen seiner mysteriösen und ekstatischen Art gern "Mad Richard" nannte, steuert das weite Klanguniversum des Quintetts so aus, dass von hypnotischer Wucht bis zu melodischen Pointen alles seinen Platz findet. Aus der durchlebten Krise und Trauer entsteht – gemäß dem Motto der Leadsingle – eine Bittersweet Symphony, ein reflektiertes Narrativ auf dem Weg zu Hoffnung und Heilung.
"Es ist emotionale Musik. Manchmal ist es schwere Musik. Manchmal ist es fröhliche Musik. Das ist es, worum es meiner Meinung nach bei einem Album gehen sollte – um alle möglichen Emotionen", erklärt der damals 26-jährige Bandleader in der halbstündigen MTV-Dokumentation "Northern Souls". Teil des weiten Spektrums sind zahlreiche musikalische Einflüsse. Von den vielschichtigen Harmonien der Beach Boys bis zu den elektrischen Disruptionen bei The Velvet Underground. Alles vorgetragen mit einem spirituellen Pathos, wie ihn selbst U2 nicht oft erreicht haben.
"'Urban Hymns' ist eine Mischung aus all den Elementen, die wir selbst gern gehört haben", führt Ashcroft im MTV-Gespräch aus. "In 'Urban Hymns' hört man Marvin Gaye. Man hört Led Zeppelin. Man hört Hip-Hop, Country-Musik, ernsthaften Blues. Es ist ein großer Mix, aber wenn man die Stimme darüberlegt, wird alles zu einer Einheit". Anders als einige Britpop-Bands, die in einem nostalgischen Gitarrenpop-Schema verharren, zelebrieren The Verve die Vision einer progressiven, sogar groovigen Rockmusik. "Rock'n'Roll muss über das Durchschnittliche hinausgehen, um zu überleben", sagt Ashcroft im selben Interview, "Rock'n'Roll muss danach streben, größer zu sein als Dance-Musik, Dance-Musik einzubeziehen, alles einzubeziehen, was wir wollen, um eine neue Art von Musik zu erschaffen, eine Musik, die es noch nicht gibt – und genau das ist es, wonach 'Urban Hymns' strebt".
Die hohen Ansprüche des Albums konzentrieren sich im Opener. In der Tradition großer LP-Starts wie "Like a Rolling Stone", "Gimme Shelter" oder "Smells Like Teen Spirit", eröffnet "Bittersweet Symphony" das dritte Verve-Album als bombastische Hymne auf das Leben. Obwohl das zentrale Sample – vier Takte aus einer Orchesterversion des Rolling Stones-Klassikers "The Last Time" – für einen langen Rechtsstreit sorgt und Richard Ashcroft bis 2019 keinen einzigen Cent einbringt, lohnt sich der Einsatz künstlerisch über alle Maßen.
Ausgehend von filigranen Streicherklängen entsteht eine mehrschichtige Wall of Sound, die den Rocksong zwischen Klassik, Hip-Hop und Doo-Wop aussteuert. Mitten im Mosaik intoniert Ashcroft seine bittersüße Lebensphilosophie. Aufgewachsen mit den spirituellen Weisheiten seines Rosenkreuzer-Stiefvaters und seines naturverbundenen Großvaters, beklagt der Sänger die gesellschaftlichen Zwänge, die das Leben bestimmen: "'Cause it's a bitter sweet symphony that's life / Trying to make ends meet, you're a slave to money then you die".
Gleichzeitig bewirbt der Sohn eines Büroangestellten und einer Friseurin einen alternativen Lebensweg, der direkt zum Herzen führt: "I'll take you down the only road I've ever been down / You know the one that takes you to the places / Where all the veins meet, yeah". Während sich das Lied, auch als Soundtrack zum Teen-Drama "Cruel Intentions", in zahlreichen Bestenlisten des Jahres, Jahrzehnts und Jahrhunderts einordnet, brennt sich parallel das ikonische Musikvideo ins kulturelle Gedächtnis. Viele Menschen, die heute "Bittersweet Symphony" hören, haben plötzlich vor Augen, wie der Verve-Sänger in seiner schwarzen Lederjacke eine belebte Straße im Londoner Stadtteil Hackney entlanggeht und jeden anrempelt, der ihm in die Quere kommt.
The Verve bringen ihre Rock-Attitüde auf den Punkt. Die wilde Energie der Jam-Anfänge entwickelt sich auf "Urban Hymns" in die Richtung hymnischer Arrangements mit zielsicheren Hooks und Riffs. Trotz seiner siebenminütigen Dauer setzt "The Rolling People" klare Akzente. Aus einer psychedelischen Weite von Echos und Rückkopplungen sticht der hypnotische Chorus hervor. Mit viel Drive und rhythmischer Finesse liefern The Verve ein modernes Bluesrock-Statement, das den Stones Konkurrenz macht. Ähnlich umkreist das sechseinhalbminütige "Catching The Butterfly" mit wummerndem Bass und elektrischen Störgeräuschen ein verträumtes Mantra. "Space And Time" entwirft ein Classic-Rock-Panorama, wie es sich Coldplay später zum Vorbild nehmen werden. "Velvet Morning" inszeniert eine mitreißende Dramaturgie zwischen Steel Guitar und 60's-Power Pop. Bis "Come On" ein grandios berauschtes Finale ausrichtet.
Bei aller Rock-Architektur bilden die stillen Lieder das Herzstück des Albums. Wie nie zuvor – und auch nie danach – ist es der Band aus dem Norden Englands gelungen, mit Streichern, Akustikgitarre und intimer Percussion klassische Pop-Balladen zu erschaffen, die allesamt zu Hit-Singles wurden. Gleich nach dem Opener schaltet "Sonnet" einen Gang zurück. Eingeleitet durch sanfte Gitarrenklänge geht das Lied auf Zeitreise ("My friend and me / Looking through her red box of memories") und beschwört in sehnsüchtigen Refrains und Ausrufen die Liebe.
Ein noch stärkerer Lovesong gelingt Ashcroft mit "Lucky Man". Inspiriert von seiner Ehe mit der Spiritualized-Keyboarderin Kate Radley, blickt der Songwriter auf die Kraft einer gewachsenen, aufs Wesentliche konzentrierten Liebesbeziehung. Bono hat das Lied 2006 zu einer kleinen Auswahl von sechs Songs gezählt, die er gern selbst geschrieben hätte. Doch seine perfekte Hymne erreicht "Urban Hymns" mit "The Drugs Don't Work". Eingebettet in eine melodisch hinreißende Streicher-Komposition beschreibt das Anti-Drogen-Stück im Grunde die lange Reise von The Verve vom Chaos ins Licht. Die Reise des Liedes reicht bis zum ersten Platz der englischen Single-Charts.
Bei aller Strahlkraft bleibt der Erfolg der Band ein kurzes Aufblitzen. Schon im April 1999, nur anderthalb Jahre nach der Veröffentlichung von "Urban Hymns", trennen sich The Verve wieder, und Richard Ashcroft beginnt, seine Solokarriere zu entwickeln. Zwar kommt die Band im Juni 2007, zehn Jahre nach "Urban Hymns" wider Erwarten noch einmal zusammen. Doch das vierte Album "Forth" kann nicht an die hohen, selbst gesetzten Maßstäbe anknüpfen. Im August 2009 sind The Verve zum dritten Mal Geschichte.
Trotzdem wirkt "Urban Hymns" weiter. Sogar der Chefarchitekt des Albums kann noch Jahrzehnte später daraus lernen. "Manchmal denke ich, diese Songs waren wie Botschaften an mich – für die Zeit, wenn ich älter bin", überlegt Richard Ashcroft im Juni 2025 bei der Chris Evans Breakfast Show im Virgin UK Radio. "Es waren Lieder, die ich erst später wirklich verstehen konnte. Heute haben sie für mich eine größere Tiefe. Fast spüre ich inzwischen mehr Empathie für manche dieser Songs, als ich es damals tat, als ich sie schrieb".
Das Statement über den Nachhall der Band bestätigt eine frühe Prophezeiung Ashcrofts, derzufolge The Verve in die Geschichte eingehen würden. Der junge Musiker soll laut dem Guardian schon 1993 sein Schicksal vorausgesagt haben: "Die Geschichte hält einen Platz für uns bereit. Es mag drei Alben dauern, aber wir werden da sein".
In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.
5 Kommentare mit 3 Antworten
https://youtu.be/9YrllfAMwHI?list=RD9Yrllf… mal reinhören
-das entzaubert die Hymne.
Entzaubert sie so gar nicht, ne.
Wow. Da hat wohl jemand Mark Forsters Zeitmaschine gefunden und damit The Verve gecovert. Zumindest ist Forster nun diesbezüglich entmündigt.
Was war diese Band zu Zeiten ihrer Anfangszeit großartig. Dann kam das The in den Namen und es ging steil bergab.
A Storm In Heaven und A Northern Soul hatten mehr Energie. Aber das hier ist natürlich ein extrem großer Wurf ohne Ausfälle. Meilenstein samt 5/5 gehen völlig in Ordnung.
"Drugs don't Work" irgendwann mal nachts bei Rock am Ring (!) von denen live dargeboten bekommen - Wat hab ich geheult!
Dann hättest Du dir das MDMA vielleicht erst 30-40 Minuten vorm Auftritt ballern sollen und nicht schon zwei Abende vorher!
Die Forth war auch gut, nur leider hatten wohl viele Leute Urban Hymns 2 erwartet. Appalachian Springs ist da ganz groß.