laut.de-Kritik
Dolores O'Riordan jagt den "Zombie".
Review von Philipp KauseWer 1995 europäische Single-Charts zur Kenntnis nahm, konnte sich nur die Ohren reiben, ob sich eigentlich auch noch Musik mit echten Instrumenten verkaufte. Das überwältigende Ding jener Zeit hieß Eurodance. Nur The Cranberries behaupteten sich als so etwas wie die letzte gallische Dorf-Bastion gegen die Besatzung durch die Legostein-artig gebauten Hype-Sounds. Und das, obwohl Cranberries, Verwandte der Heidelbeeren, zu dieser Zeit noch lange nicht als Superfood anerkannt waren, sondern in den meisten europäischen Ländern eher ein Schattendasein in landwirtschaftlich nicht beachteten Sümpfen fristeten. Und ein bisschen hört sich auch die Musik auf dem "MTV Unplugged" ländlich naturbelassen an.
Dolores O'Riordan jagte zwar, anders als Obelix, keine Wildschweine, aber den "Zombie". In ihrem gallischen Widerstand fungierte sie durchaus als politische Stimme in der Frage, wer welches Land beansprucht, "Zombie" erzählt vom Bürgerkrieg. Unplugged wirkt die Nummer sogar noch viel dramatischer, was wohl am fehlenden Vorspann liegt und daran, dass die verzerrte E-Gitarre ausgestöpselt bleibt, und an den schrammeligen Electra Strings. Dieses Streichquartett gehörte aus unbekannten Gründen zur gesamten Performance damals.
"It's the same old theme since 1916", beklagt sie in "Zombie" die Spirale der Gewalt in separatistischen Konflikten. Mitte der 90er hätte man so vieles heranziehen können, auf das sich das Lied bezieht, Nahost, Ruanda, das Amselfeld im Kosovo, oder den Terror der IRA, der den Ausschlag für den Song gab, als The Cranberries von einem Attentat hörten, dem am 20. März 1993 zwei Kinder in einer Einkaufsstraße zum Opfer fielen.
Auch "No Need To Argue", zugehöriger CD-Titelsong, gehört thematisch zu diesem Ereignis, das Dolores als Irin beschämte. "No Need To Argue", "kein Anlass zum Streiten", lässt sich theoretisch auch auf private und unbewaffnete Konflikte übertragen, insbesondere durch die Zeile "And I remember all the things we once shared / watching TV movies on the living room armchair". Der Song hatte aber wohl im Kontext des Studioalbums eigentlich die Funktion einer Anti-Kriegs-Hymne. Konfliktlösung und Frieden lassen sich freilich im Privaten üben.
Wie O'Riordan, damals 23, zum Ende hin intoniert, so extrem eindringlich, bleibt der Wahnsinn. Seit ihrem frühen Tod 2018 fehlen diese unverwechselbare Songwriterin und ihre Stimme. Insbesondere "Zombie" greift auf eine Intonationstechnik der irischen Folklore, beispielsweise von Kinder-Schlafliedern zurück, das Halten und Modulieren der Stimme auf langen Bögen, genannt Sean-nós. Dolores kombiniert diese Schwingungen mit teils sehr hohen Tönen, die sie auf dem Wort "Zombie" mit Kopfstimme erzeugt, was eher bei Opernarien üblich und anstrengend zu singen ist. Wie sie die Silben "zom" und "bie" bearbeitet und auf derselben Silbe mehrere Tonbrüche vollzieht, nennt man Melisma, wiederum bekannt aus gregorianischen Chorälen. Hier in der Live-Version mischen sich noch Atemlosigkeit, ein besonders verzweifeltes Röhren und ein gelegentliches Absinken in tiefste Basstöne mit hinein in O'Riordans intensiven Ausdruck.
Traurig waren die Hits der Band grundsätzlich. Sie leben vom eigentümlichen Kehlkopfüberschlag der Sängerin, von substanziellen Liedtexten, Kaminfeuer-Stimmungen, äußerst anrührenden Melodien und stilsicheren Arrangements. Diese waren sowieso wie geschaffen für ein Unplugged. Jedoch hätte man sie nicht mit Cello und Bratsche erwartet.
Wer 1995 europäische Album-Charts durchforstete, fand sich in einer völlig anderen Welt wieder als bei den Singles. Del Amitri, Hootie And The Blowfish oder Neil Young verkauften jenseits von Eurodance in beträchtlichen Stückzahlen Gitarrenmusik, stets mit ordentlich Verstärker. Einen Gegentrend hatte MTV mit seiner Unplugged-Serie schon erfolgreich losgetreten. Doch davon war vieles ausgestrahlt und nur wenig auf CD erschienen. Clapton, Sting, Dylan, Tony Bennett, Mariah Carey, die 10.000 Maniacs, spannender Weise auch Arrested Development konnte man mit ihren "MTV Unplugged"-Sets kaufen. Vieles hielt der Sender nach dem Senden unter Verschluss, jahrelang. Pearl Jams Aufnahmen von 1992 gingen erst 2009 beim Deluxe von "Ten" in die Tonträger-Pressung, und große Schätze aus den 125 Folgen schlummern bis heute außerhalb des Zugriffs der Öffentlichkeit.
Dabei versuchten sich an dem Cranberries-Mitschnitt manche obskure Bootleg-Labels wie Dalmation Records oder FinGerPrinT, die widersprüchliche Angaben zu Ort und Zeit der Aufnahme machten, aber auch die renommierten italienischen Bootleg-Experten Kiss The Stone. Freilich wurde ihnen allen die Verbreitung untersagt.
Die rustikal holzige Kammermusik-Version von "Zombie" fand sich immerhin als Maxi-Single-Track ganz offiziell in den Läden wieder. Das unveröffentlichte, sehr ruhige "Yesterday's Gone", auf keinem regulären Album enthalten, konnte sich mal auf einer Live-DVD platzieren. In der zweiten Hälfte des Liedes wählt Dolores einen sehr bohrenden Gesangsstil. Er hämmert die Botschaft des Stückes ein, das damals eine Premiere war: "And she cries all night." Der Applaus ist tosend. Obschon das Auditorium den Song also wohlwollend aufnahm, verzichtete die Band auf eine Studioversion. "Dolores und ich haben 'Yesterday's Gone' (...) buchstäblich am Tag zuvor geschrieben", erhellt Gitarrist Noel Hogan den Hintergrund dieser Rarität. Die Band kam für die Proben in Brooklyn an. "Da stand ein Klavier, und ich sagte: 'Ich habe da eine Idee', und innerhalb weniger Stunden war der Song fertig. Das einzige Mal, dass wir ihn gespielt haben, war bei MTV." - Erst der Lockdown-Reprint als Doppel-Vinyl sorgte 2020 für Abhilfe und ließ diese MTV-Version auf ein offizielles Hör-Medium.
Die Aufnahmen vom Februar '95 nehmen "Free To Decide" vom späteren Album "To The Faithful Departed" vorweg. Dieser Mitschnitt betont ganz arg die Akustikgitarre, wie man das aus der Clapton-Folge des Formats kennt. Gerade mit heutiger Wahrnehmung sticht die Zeile "There's a war in Russia and Sarajevo, too" hervor. Ja, auch Jelzin führte einen Krieg, in Tschetschenien. Putin war damals sein Wahlkampfmanager, mit Geldern von Gazprom. Wie wenig beachtet jener brutale Krieg bei uns war, führte der Moskau-Korrespondent des ZDF, Dirk Sager, in einer hausinternen "37 Grad"-Reportage darauf zurück, dass die "heute"-Redaktion sich standhaft seinen Beiträgen von der Front verweigerte. Gegen solches Vertuschen von Ungerechtigkeit ging O'Riordan mit Vorliebe auf die Barrikaden, weswegen ihre Bandkollegen in ihren tristen Liedern eher die Wut spürten und Fachkreise gar Grunge-Elemente sahen. Wohl noch nicht geschrieben war zum Zeitpunkt des MTV-Konzerts "Bosnia", noch ein Weckruf-Song aus dem politischen Zyklus der Band. Die ungebrochene Beliebtheit gerade schwieriger Lieder dieser Combo belegt, dass es auf die künstlerische Verpackung ankommt, nicht aufs Problem-Level der Lyrics, das hier recht hoch war.
Muss man dieses Album nun haben, wenn man die Studio-Scheiben schon besitzt? Eindeutig ja. Das warme, kraftvoll geträllerte "Linger" aus "Everybody Else Is Doing It..." reicht schon als Argument, und selbst mir als bekennendem Geigen-Allergiker erscheinen die Violinen in "Empty" als wundervoll. Eignet sich dieses Album, wenn man die Band bislang nicht oder kaum kannte? Sicher auch das.
The Cranberries sind ohne ihre Sängerin und Hauptautorin nicht denkbar, verfügten aber natürlich über die drei großartigen anderen Mitglieder. Gitarrist Noel hat sich mittlerweile mit einem brasilianischen Sänger zusammen getan. Sein Bruder, Bassist Mike, ist - seinem Instagram-Profil zufolge - Instrumente-Verkäufer bei Rose Morris in der berühmten Denmark Street im Londoner West End geworden. Und Drummer Fergal Lawler hatte sich noch zu Cranberries-Zeiten (mit damals 44 Jahren) für ein Masterstudium der Soundtrack-Komposition eingeschrieben. Sein Solo-Debüt erschien 2022 auf Bandcamp, neo-klassische Ambient-Drone-Klanglandschaften.
Wie das übrigens oft so geht im Musikgeschäft, hatte die Plattenfirma Island nicht an den Erfolg von "Zombie" geglaubt. Das Lied werde wegen seines düsteren und provozierenden Inhalts nie im Radio eingesetzt werden und floppen, prophezeite das Label der Band. Dolores bestand jedoch darauf, den Song als Vorab-Single von "No Need To Argue" ins Rennen zu schicken. Damit bewies sie den richtigen Riecher, und das tat sie auch mit der Teilnahme bei "MTV Unplugged".


1 Kommentar
"Nur The Cranberries behaupteten sich als so etwas wie die letzte gallische Dorf-Bastion"
Das gälische Dorf heißt das, meine Göte. Der war aber jetzt wirklich frei vor'm Tor vergeben. Wie schade.