laut.de-Kritik
Der vierte Teil des Klassikers mit 13 neuen Outtakes.
Review von Michael SchuhDie Marke "Anthology" genießt unter Beatles-Fans einen exzellenten Ruf. Spätgeborene dürften sich nur schwer vorstellen können, welch fundamentalen Einschnitt diese Serie im Jahr 1995 bedeutete. Unveröffentlichte Demos der besten Band der Welt, von offizieller Seite ausgewählt und freigegeben, das war neu in einer Zeit vor dem Internet, als diese Art von Fanmaterial noch ausschließlich von dubiosen Vinylhaien zu gottlosen Preisen auf Plattenbörsen feilgeboten wurde.
Und plötzlich lagen massenhaft alternative Versionen von unumstößlichen Klassikern ganz legal vor einem, die Einblicke in die Studioarbeit erlaubten: "Ticket To Ride", "Strawberry Fields Forever" oder "Across The Universe", gemischt mit Deep Cuts wie "Yes It Is", "Cry Baby Cry" oder "You Know My Name (Look Up The Number)", letztere Version featurete die Beatles gar als Ska-Band.
Vermarktet wurden die Anthologys mit den zwei 'neuen' Beatles-Songs "Free As A Bird" und "Real Love", die John Lennons Frau Yoko Ono im Vorjahr in einem ähnlich spektakulären Akt der Versöhnung dem nichtsahnenden McCartney auf einer verrauschten Demokassette in die Hand drückte. Man erlebte also gleichsam noch eine Art Beatles-Reunion, nachdem die verbliebenen drei Musiker die Stücke um Lennons Stimme herum vollendeten. Es war perfektes Timing: Im Zeitalter des Britpop stiegen die Götter persönlich vom Thron herab.
Das ist alles sehr lange her, mit George hat uns ein weiterer Beatle verlassen, doch die Strahlkraft ihrer Musik auf junge Generationen ist ungebrochen. Was der Industrie nicht verborgen geblieben ist: Der siebenstündige Peter-Jackson-Film über die "Get Back"-Aufnahmen vor vier Jahren war praktisch der "Anthology"-Moment für die Gen Z. Ein Film, von dem man nicht dachte, ihn je zu Gesicht zu bekommen.
Dass "Anthology 4" von Überraschungsmomenten weitgehend frei ist, deutet schon das Cover an: Klaus Voormanns Artwork der ersten drei Teile wurde kurzerhand zweitverwertet. Denn hier geht es um die Jahre 1963-1969, kurz: um alles, was nicht bei drei auf den Bäumen ist. Vielleicht hätte man besser mal den Kontakt zu Beatles-Experten gesucht, dann wäre die Ausbeute nicht so karg ausgefallen: Von 33 Demos sind lediglich 13 bisher unveröffentlicht.
Anstatt redundanter Takes von "I Saw Her Standing There" oder "Matchbox" (WTF) aufzulisten, hätte man recht einfach dem offensichtlichen Vorhandensein niederer finanzieller Beweggründe entgegen treten können. So existieren unzählige, nie veröffentlichte Demos allein aus dem "Get Back"-Film. Genauso hätte der elfminütige, erst 2009 aufgetauchte Track "Revolution (Take 20)" im Beatles-Fanlager für leuchtende Augen gesorgt. Oder die Integration der 27-Minuten-Version von "Helter Skelter" oder der mysteriös-experimentelle Jam "Carnival Of Light" aus dem Jahr 1967, den McCartney schon auf "Anthology 2" packen wollte, was seinerzeit an George Harrisons unnachahmlichem Veto scheiterte: "Avantgarde is French for shit."
Das von einem aggressiven Lennon voranpreschende "Money (That's What I Want) (RM7 undubbed)" versöhnt ein wenig, bevor einige frühe Songs kommen, deren Takes zu nahe am Original liegen, als dass sie einen "Anthology"-Platz rechtfertigen, etwa "This Boy (Takes 12 and 13)" oder "If I Fell (Take 11)". Der erste Take des "Rubber Soul"-Tracks "In My Life", das Lennon später als seine erste richtig gute Komposition bezeichnete, ist auf einer Compilation, die geschichtsträchtige Momente versammeln will, dagegen goldrichtig.
Der Song über Lennons Kindheit in Liverpool hinterlässt einen bemerkenswert ausgereiften Eindruck. Das Fehlen von George Martins Piano-Bridge und dem Chor der Albumversion sowie Lennons spielerischer Gesang machen die Version zu einem Highlight. "Helter Skelter (Second version Take 17)" ist eine wunderschöne Alternative zu McCartneys bekanntem The Who-Amoklauf (Maccas Kommentar "Keep that one, mark it fab"), allerdings - wie so vieles auf dieser Compilation - bereits veröffentlicht, in diesem Fall auf der 2018er Deluxe Edition "White Album".
Erstmals zu hören bekommt man dagegen Instrumentalversionen von "Nowhere Man", "The Fool On The Hill", "I Am The Walrus" und "Hey Bulldog" - ja, darauf haben wir natürlich alle 30 Jahre lang gewartet. Wer nicht jedes Re-Issue blind gekauft hat, darf immerhin noch Großartiges wie "Julia (Two rehearsals)" entdecken, Lennon in Hochform, 4.26 Minuten, die jeden einzelnen Cent wert sind.
Als Produzent George Martin gefragt wurde, warum jetzt plötzlich Beatles-Demos erscheinen, wo es doch jahrzehntelang hieß, es gäbe keine veröffentlichungswürdigen Aufnahmen mehr, antwortete er: "Die Welt scheint jetzt bereit für solche Aufnahmen zu sein." Das war 1995. Martin hatte nie verstanden, warum man Fans Einblicke ins Rohstadium von Klassikern gewähren sollte, wo man, um dies zu vermeiden, doch Ewigkeiten an deren Perfektion gefeilt hat.
Deshalb wollte er damals auch nichts mit den restaurierten Lennon-Demos "Free As A Bird" und "Real Love" zu tun haben, deren Bearbeitung er makaber fand. Harrison wiederum machte seine Teilnahme an den Aufnahmen 1995 von der Anwesenheit seines Kumpels Jeff Lynne (E.L.O.) abhängig.
Lynne und Martins Sohn Giles nahmen sich nun beide Tracks sowie "Now And Then" für ein Remastering vor. Das Ergebnis ist die größte Überraschung von "Anthology 4": Lennons Stimme wurde viel präziser nach vorne gemischt und klingt erstmals nicht, als hätte er die Tracks über ein Schnurtelefon eingesungen. Beide Songs erinnern zwar immer noch weniger an die Beatles als an Lynnes Traveling Wilburys, aber das ist weitaus weniger problematisch als der rückblickend doch eher spannungsarm geratene Abschiedssong "Now And Then".
Harrison lehnte die Veröffentlichung der Aufnahme damals ab, weil ihn weder die Sound-Qualität noch Lennons Songwriting überzeugten. Nun ist "Now And Then" der wahrscheinlich letzte Song der Beatles-Geschichte und der maßgebliche Grund dafür, warum man "Anthology 4" in Erinnerung behalten wird.


1 Kommentar
Ich überlege seit Wochen, mir die Vinyl-Box zu kaufen. Aber 320€, puh!