laut.de-Kritik

Wo es kreativ wird, kriechen Schatten aus der Tiefe.

Review von

Beim Vorgänger "Möwengold" resümierte unser Autor, dass er lieber seine Eier an den Bürostuhl tackern und "Bella Ciao" singen würde, als das Zweitlingswerk von Vincent Gross noch ein einziges Mal zu hören. Wir betreten ein neues Jahrzehnt und Schlager hält den Jungen mit der Camp David-Model-Optik und den lustigen Jedward-Haaren immer noch für die Zukunft. Es stellt sich nur eine Frage: Warum?

Auch auf "Hautnah" fusioniert er gulaschhirniges Bierzelt-Schunkeln mit der musikalischen Trostlosigkeit des deutschen Lokalradio-EDMs. Sein großes Alleinstellungsmerkmal scheint zu sein, dass er spricht, wie Schweizer-Schlagerscheichs glauben, wie Jugendliche reden. "Du bist meine Chill Out Time", singt er in, nun ja, "Chill Out Time", auf "Replay" heißt es dann "Alles auf Replay, es flasht mich jedes Mal" und es ist ein netter Versuch. Jetzt kriegt man den Schlager-Showman-Schleimscheißer also auch im Millennial-Influencer-Gewand. Ein Florian Silbereisen mit Instagram-Account, quasi.

Die kleinen Fingerzeige in Richtung Gegenwart täuschen aber nicht darüber hinweg, dass die meisten Songs wortgenau ins Musikalische übersetzte Facebook-Boomer-Memes sind. Nirgends wird das klarer als auf dem horrenden "Der Frühe Vogel". Alle Welt fragt sich bei diesem clever aufgesetzten Songkonzept, ob sich der arbeitsam-charmante Vincent für eine gute Work-Life-Balance ausspricht. "Hah, verschaukelt!", scheint der Song uns daraufhin anzuschreien, sich selbst schon rülpsend am eigenen Gelächter verschluckend, denn dann singt er: "Der frühe Vogel kann mich mal!" Ein Evergreen – die ganze Apres-Ski-Hütte liegt grölend am Boden. Ich muss auch schmunzeln, fand den Joke aber besser, als meine Mutter ihn mir 2013 als Minion-Image-Makro auf Whatsapp von ihrer Kollegin Gisela weitergeleitet hat.

Wenn Vincent nicht beschäftigt damit ist, den unironischen Soundtrack für die Instagram-Seite Alman-Memes zu liefern, widmet er sich seiner liebsten Freizeitbeschäftigung: Phrasen. Er hat viele, er sammelt sie wahrscheinlich in Panini-Heften oder in Einmachgläsern im untersten Regal der Speisekammer. Für kein "Der Weg ist das Ziel!" ist er sich zu schade, es ist vom Leben, vom Lachen und der Welt die Rede, manchmal auch nur ganz poetisch vom Sein. "Ich bin, du bist, wir sind", singt er schmachtend und vielsagend auf dem Refrain von "Ich Bin Du Bist" - und man muss ihm diese profunde Beobachtung über die Welt einfach lassen. Auch, wenn man sich im Laufe der Platte wünscht, er hätte Unrecht.

Ganz ehrlich? Man kann froh sein, wenn er Phrasen drischt. Denn all das ganze "Wörter schreiben" liegt ihm einfach nicht so sehr. Immer, wenn Vincent sich an diesem Kreativitäts-Ding versucht, kriechen Schatten aus der Tiefe. Ein Beispiel wird mich vermutlich bis an meinen Lebensabend verfolgen: In einem Song über seine Fans widmet er ihnen folgende Metapher: "Dann seid ihr das Start-Up in mein Herzen" singt er in "Hey". Sollte mir irgendjemand erklären können, was es bedeutet, jemandes Herzens-Start-Up zu sein, wenn es nicht gerade um ambulante Lebenserhaltungsversuche geht, so lasst es mich nicht wissen. Ich will es nicht wissen. Ich will nicht das Start-Up in deinem Herzen sein, Vincent. Ich will nicht ausgebeutet, überarbeitet und in zwei Jahren bankrott mit dir sein.

Aber es geht noch härter: "Wer Schön Sein Will Muss Lachen". Ihr denkt euch nun sicher genau wie ich - bitte, bitte, bitte sei keine "Lächel doch mal"-Hymne - aber Pustekuchen. Vincents Freundin hat einen schlechten Körpertag, fühlt sich in ihren Klamotten nicht wohl, und der strahlende Ritter weiß hilfreichen Rat: "Wer schön sein will muss lachen, am besten laut und viel." Selbst die Facebook-Mittvierzigerinnen seiner Zuhörerschaft würden ihn für diesen Vorstoß wahrscheinlich ohrfeigen. Aber nicht das ist der Tiefpunkt des Songs, auch nicht das grenzdebile Intro, in dem er den Song nicht weniger als jeder Frau des Planeten widmet, es ist der Refrain: Er singt "Ha, ha, ha / Ha, ha, ha" robotisch auf den Takt, man weiß nicht, ob er passiv-aggressiv oder wie ein Büro-Angestellter mit Nervenzusammenbruch klingt, auf jeden Fall nicht so erbaulich, wie der Song es nahelegt.

Vincent Gross steht also weiter Pate für konstant ermüdendes und militant uncooles Schlager-Stangengewäsch. Denn selbst, wenn manche Nummer hier aus dem Munde einer Helene Fischer ganz okay klingen könnte, sabotiert er seine kompetenter produzierten Songs wie "Baby Bitte Bleib" und "Et Voilà" mit einem völligen Charisma-Vakuum. Der Junge klingt so sehr nach Dorffest-Alleinunterhalter, mit so viel Ausstrahlung müsste er um einen DSDS-Recall bangen. "Hautnah" lässt alle Ramon Rosellys und Mia Julias wie strahlende Leuchttürme des Charakters erscheinen. "Hautnah" schreit nach einer Pop-Up-Bühne auf dem nächsten Event der Jungen Union. "Hautnah" klingt genau so, wie man sich die Radio-Playlist "Pop Konservativ" vorstellt.

Trackliste

  1. 1. Servus Grüezi & Hallo
  2. 2. Über Uns Die Sonne
  3. 3. Chill Out Time
  4. 4. Ich Schenk Dir Mein Herz
  5. 5. Ich Bin Du Bist
  6. 6. Replay
  7. 7. 24/7
  8. 8. Baby Bitte Bleib
  9. 9. Et Voilá
  10. 10. Hautnah
  11. 11. Teil Von Mir
  12. 12. Wer Schön Sein Will Muss Lachen
  13. 13. Der Frühe Vogel
  14. 14. Hey
  15. 15. Merci

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