laut.de-Kritik

Psychedelisches Gospel-Inferno aus einem Klamottenladen in Mississippi.

Review von

David Byrne hat sich nach den Talking Heads dem Fördern von Talenten zugewandt und stieß dabei immer wieder auf solche, die schon jahrzehntelang aktiv sind, aber Mühe mit dem Ergattern eines Plattenvertrags haben. So sind auch Annie & The Caldwells erfahrene Leute. Ihrem Album gingen 40 Jahre Vorübung voraus. Luaka Bop steht seit der Gründung für Sounds, die den Zuhörer:innen mitunter ganz schön Toleranz abverlangen, auch wenn sie einen Pop-Kern haben. Die Produktionen für Byrnes Firma sind in der Regel hochwertig und schon in audiophiler Hinsicht ein Ereignis, und so ist es auch bei "Can't Lose My (Soul)", produziert von Sinkane.

"Can't Lose My Soul" handelt von der Seele. Zehn Minuten lang führt der Song uns mit Nachdruck durch die Abgründe dieses Mysteriums, das kein Organ und auch sonst nichts Greifbares ist, das aber dem Genre Soul seinen Namen gab. In dieser vor Spannung schier berstenden Klangarchitektur aus Tonspuren, die einander gegenseitig stützen und die Aufmerksamkeit aufeinander lenken und wo jede Stimme eine Lead-Stimme ist, zeigt sich Sinkane als geschmackssicher, inszeniert ein Inferno. Mit geistesgegenwärtigen Producer-Ohren schichtet er auf "Riders On The Storm"-Pling-Pling krönende "Sister Act"-Momente.

Das, was uns diese beiden Whoopi Goldberg-Filme lehren konnten, dass Sängerinnen aufeinander im Chor hören, aufeinander reagieren und wechselseitig beziehen müssen, damit sowohl etwas Harmonisches als auch Lebendiges entsteht, genau das merkt man hier. Nur so zieht ein Gesangs-Ensemble das Publikum in Bann. Statt brav zu klingen, kombiniert man das Kirchliche des Gospel am besten mit der weltlichen Wirklichkeit der Leute draußen, und die wollen berührt, stimuliert, getröstet, unterhalten und bestenfalls zum Tanzen gebracht werden.

Annie Caldwell und ihr Mann sorgten sich, als ihre Kinder zur Schule gingen, weil sie dort auf Blues-Rock, Funk und Disco stießen - in den Augen der Eltern Musik des Teufels. So brachten sie ihren Kids den Gospel bei, doch da hatte der 'Teufel' den Nachwuchs schon im Griff. Was half da noch? Ein Kompromiss war die Lösung, wenigstens beides miteinander verschmelzen, um zumindest den Devil unter Kontrolle zu halten und die Liebe zu den kirchlichen Klängen zu wecken.

Der "Sister Act"-Kompromiss kommt mit wenig Text, doch der wiederholt sich dafür ad lib, also in unendlicher, improvisierter Formlosigkeit, und jede Zeile hört sich verschieden an, obwohl es immer die gleiche Zeile ist. Nach acht Minuten bäumt sich Mama Annie noch mal wild und Zähne fletschend auf. Sie plärrt ihre Seele heraus, "my soul cries out, Hallelujah". "Can't Lose My Soul" ist Magie. Ein Hammer-Stück!

Während man den Gospel hier erfolgreich als Ausdruck von Popkultur wieder belebt, geht es in "Dear Lord" sogar mit dem Text an dessen Substanz: "I thank you, Jesus! I thank you, Lord! (...) He shouldn't be go-oo-ood to me / you've been good to me!" Die stimmliche Ausdruckspalette reicht von Gurren im Singen über Marla Glen-Kratzigkeit bis Etta James-Kehligkeit und Keifen.

Zur Ballade "I'm Going To Rise" gehört komplementär im Yin und Yang des Albums der gepfefferte Disco-Burner "Wrong". Nach einem knappen Intro läuft er rasch heiß, erzählt von einer Ehe, "being married / experienced heartache and pain", führt ein grandioses Schauspiel auf, mit Selbstkritik und Reue. Tochter Deborah Caldwell-Moore überschlägt sich im Strom ihrer heraus geschleuderten Worte. Ein Song wie eine zu Musik geronnene Beichte! Das Intro zum Video drehte die Familie in einer Klamotten-Boutique, die Annie in ihrer Heimatstadt West Point im Südstaat Mississippi betreibt. In diesem grell-bunten Umfeld reiften die Arrangements für dieses fantastische Debütalbum.

Romantisch-unwirkliche Stimmung verbreitet "Don't You Hear Me Calling" mit Spoken Word-Einsprengseln bis hin zur Stimm-Knödelei in der siebten Minute, alles im steten Fluss von Percussion (Sohn Abel Aquirius, im Hauptberuf Sanitäter) und Bassgitarre (Sohn Willie Jr., hauptberuflich Staplerfahrer). Im visionären Tunnelblick entsteht hier Psychedelic-Rock mit Funkyness nach Vorbild von Sly And The Family Stone. "Can't Lose My (Soul)" setzt dabei selbst Maßstäbe.

Psychedelische Unschärfe im Ton hat auch das euphorisierende und aufrüttelnde "I Made It". Es demonstriert das Schwarz-Weiß, das hinter der Platte stand: Hier die Kirche, der geschützte Raum - draußen die harsche Realität mit ihren ambivalenten Verlockungen und mit ihren Abgründen. Auf der einen Seite ruht das Energetische der Spiritualität. Auf der anderen Seite zeigen die einschneidenden Ausstülper in der funky Bassline und die sägende Vintage-Gitarre frei nach ghanaischem Highlife, von Annies Mann Joe traktiert, dass es das ruhige Leben zwischen Farm und Kirche kaum mehr gibt und überall die Konflikte des Stadtlebens lauern.

"You drop da bomb on me", heißt es im Text in weicher Sprache, und die Caldwells performen ihn in Call-and-Response-Technik. Nach einem ungestümen Hin und Her zwischen Solo- und Chorgesang und frei stehenden Passagen drehen sie für eine Reprise am Ende richtig auf. "Can't Lose My (Soul)" verwirklicht einen unvergleichlichen Ansatz, Gospel 2025 neu zu denken - ein Platten-Erstling mit überwältigender Dramaturgie!

Trackliste

  1. 1. Wrong
  2. 2. Can't Lose My Soul
  3. 3. I Made It
  4. 4. Don’t You Hear Me Calling
  5. 5. I'm Going To Rise
  6. 6. Dear Lord

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