laut.de-Kritik

Arbeitsmaschinen singen von Ekstase und Kontrollverlust.

Review von

Diese Schlagerwelt! Nirgendwo sonst findet man so gut durchorganisierte, disziplinierte, knallhart kontrollierte Arbeitsmaschinen, die dessen ungeachtet fortwährend von Magie, Ekstase, Rausch und Kontrollverlust singen. Beatrice Egli zum Beispiel: "Herzgesteuert", behauptet sie, sei sie, "von Gefühl befeuert". Dabei lächelt die professionelle Dienstleisterattitüde allzeit perfekt strahlend aus jedem Takt. "Verlier' mit dir die Balance", behauptet, davon unbeeindruckt, die Eidgenossin, "wie in Trance." Ach, bitte! Wer soll dieser Frau denn abkaufen, dass sie sich auch nur den kleinsten Stolperer gestatten würde?

Die ausgegebene Devise lautete wohl auch diesmal wieder: Die empfindliche Zielgruppe bloß nicht mit irgendwelchen ungewohnten Sounds verschrecken. Anders lassen sich der seit Dekaden wieder und wieder recycelte Vierviertelbummsbeat und die ranzigen Synthieeffekte wirklich nicht erklären. Bizarr, dass Beatrice Egli selbst in dieser Kulisse unentwegt von Neuanfang und Freiheit erzählt, gar einen "Mutausbruch" zu durchleben vorgibt. "Ich geh' volles Risiko." Äh ... okay. Wo genau?

Tatsächlich ist das einzige, das an diesem Album ein bisschen mutig oder homöopathisch riskant wirkt, das Ausmaß der Dreistigkeit, mit dem sich die drei bis sechs Beteiligten, die bei jedem einzelnen Track für Komposition und Produktion verantwortlich zeichnen, anderswo bedienen, ohne den Hauch einer Quellenangabe für nötig zu befinden. "Balance" rippt Coldplays "Clocks", "Lüg Nochmal So Schön" "Chasing Cars" von Snow Patrol, und auch der ganze Rest auf diesen Bohlen-Type-Billo-Beats wirkt so vertraut, ich habe zwischendurch ernsthaft recherchiert: Hab' ich es eventuell mit einem Cover-Album zu tun?

An der Wortfront geht es noch verrückter zu: Unter vier "Textdichter*innen" macht es kaum ein Track, meist braucht es derer sogar fünf. Die ersinnen dann gemeinsam lyrische Perlen dieses Kalibers: "Sag mir, spürst du auch dieses Adrenalin? Wie weit, wie weit, wie weit bist du bereit zu geh'n? Wir geh'n volles Risiko, diese Nacht wird riesengroß." Natürlich brennt allüberall Feuer, es wird fleißig angebandelt, getanzt, geflogen, "Richtung Mond", falls jemand fragt. Dazwischen ein paar Stadion-taugliche Oh-oh-ohs, "das soll für i-i-immer so bleiben." Himmel, hilf.

Jeweils vier bis fünf Texter*innen pro Song, und nicht einer Nase fällt auf, dass es das Wesen eines Moments ist, eben nicht ewig zu dauern? Über die mindestens schräge Wortkombination "endlos leicht" holpert niemand? Keine*r merkt, dass es nicht so wahnsinnig überraschend erscheint, dass ein "Herz pulsiert"? Um einen Traum "zirka hunderttausendfach" zu träumen, bräuchte man 274 Jahre, vorausgesetzt er wiederholt sich wirklich jede Nacht. Angesichts all dessen geht eine Zeile wie "Vielleicht fehlt uns noch mehr Fantasie" mindestens als Steilvorlage durch. Streiche "vielleicht".

Am schlimmsten find' ich aber, dass sich keiner der vielen Beteiligten daran zu stören scheint, dass "Das Wissen Nur Wir" ausgerechnet mit der ekelhaftesten Phrase der Rape-Culture eröffnet, die es überhaupt gibt. "Du willst es doch auch", raunt Florian Silbereisen da seiner Duettpartnerin entgegen, das Ganze mit derart unnatürlich gepresster Stimme, man fragt sich wirklich, was ihn da geritten hat. Soll das ... animalisch wirken? Silbereisen, der nette Flori, gibt den hypermaskulinen Flachleger? Man möchte sich gepflegt übergeben.

Die Nummer ist in jeder Beziehung so scheußlich, dass ich an dieser Stelle gerne einmal die Verantwortlichen an den Pranger stellen möchte. Egli hat, das ehrt sie ein wenig, diesen Dreck nur gesungen und sonst nicht weiter mitgewirkt, ausnahmsweise haben hier auch nicht sieben bis neun Menschen die Finger im Spiel, sondern nur Eike Staab (wir kennen ihn) und Eric Philippi (er hat gerade, zuuufällig in der Show von Florian Silbereisen, seine Liaison mit Michelle bekannt gegeben, Schlager bleibt einfach ein Inzestgeschäft).

Beatrice Egli selbst möchte ich eigentlich gar nicht so hart schmähen. Ich frag' mich noch immer mit leisem Bedauern, an welchem Punkt ihrer Karriere die Profi-Arbeitsmoral ihre Begeisterung für Schlager aufgefressen hat. Als sie einst bei "DSDS" antrat, schimmerte die noch überall durch. Es muss wirklich schnell gegangen sein, seit Jahren wirkt einfach alles, das sie macht, so eiskalt durchkalkuliert, dass es sich mit der Wärme in ihrer eigentlich wirklich schönen Stimme empfindlich beißt.

Bestes Beispiel für die Berechnung liefert der Grad ihrer Anzüglichkeit: Ein bisschen frivol darf es sein. Fantasien bedienen? Gerne! Dabei aber immer schön familienfreundlich bleiben. Deswegen kullert Beatrice Egli nicht in Unterwäsche durch ihr Video, sondern im Herzchenpyjama. Hach. "Bodenständig" soll das wohl wirken, oder, wie die Weiber halt zu sein haben: irgendwie verfügbar, dabei aber süß. Na, danke.

Zweifel, Richtungssuche, Solidarität unter Frauen oder Selbstliebe aufzugreifen: An sich eine ehrbare Sache, umschliche einen nur nicht laufend der Verdacht, dass Beatrice Egli diese Themen nicht aufgrund eines inneren Bedürfnisses anspricht, sondern, weil sie im Rahmen irgendeiner sterilen Songwriting-Session für angesagt befunden worden sind. 'Wir brauchen noch ein Dankeschön-Lied für die Fans!' Voilà, "Huckepack".

'Was über Trauer, Verlust und Familienzusammenhalt wär' auch noch schön.' Hier, nehmt "Zwischen Den Wolken". Das einzig wirklich persönliche Bild darin übrigens schildert, wie Beatrice die Eheringe der besungenen Verstorbenen aufträgt. Das ist mal wirklich herzerwärmend, betont aber nur die grauenvolle Floskelhaftigkeit des restlichen Textes, und ein bisschen mehr (oder überhaupt irgendeine) musikalische Ambition hätten liebende, bestärkende, unterstützende Ahnen doch wohl auch verdient gehabt.

Ich ahne die gute Absicht hinter "Unvergleichlich", auch wenn sie, pardon, wahrhaftig unvergleichlich mies umgesetzt wurde: "Du bist nicht allein, wir sind alle Schwestern und stehen zusammen", beteuert Beatrice Egli da, nur um dann eine Phrasensalve der Extraklasse abzufeuern: "Du bist so unvergleichlich, du bist so einzigartig." Alter! Wer sich von solchen generischen Allgemeinplätzen verstanden und gestützt fühlt, hat Verständnis und Stütze aber wirklich bitter nötig.

Dass Beatrice Egli auch ganz anders könnte, stellt sie mit "Chliini Händ" unter Beweis. Sieh' an: Schwyzerdütsch scheint sich einfacher handhaben zu lassen als das Hochdeutsche, zumindest genügt hierfür ein einziger Texter. Offenbar passt Bergsprache auch nicht zu Bummsbeat und Synthies, stattdessen setzt der Track eher auf eine Art 80er-Chanson-Style, der Egli ausgesprochen gut steht. Auf einem Album mit solchen Stücken könnte sie ihr gesangliches Potenzial entfalten und klänge zudem einmal wirklich originell und anders statt wie die minimal jüngere, genau so auf Hochleistung getrimmte Version von Helene Fischer.

Doch um sich so etwas zu trauen, müsste ja jemand "volles Risiko" gehen. Es bräuchte einen regelrechten "Mutausbruch". Der ist von Beatrice Egli wohl nicht mehr zu erwarten. "Doch es ist nicht zu spät, um von vorn zu beginnen." Am Ende des Albums, längst wieder sicher zurück im Immergleichen, klingt das nach einer veritablen Drohung.

Trackliste

  1. 1. Neuanfang
  2. 2. Herzgesteuert
  3. 3. Heute Nacht
  4. 4. Lüg Nochmal So Schön
  5. 5. Unvergleichlich
  6. 6. Balance
  7. 7. Verlieb Dich Nicht Ohne Mich
  8. 8. Zwischen Den Wolken
  9. 9. Dankbar
  10. 10. Volles Risiko
  11. 11. Immer So Bleiben
  12. 12. Das Wissen Nur Wir (mit Florian Silbereisen)
  13. 13. Huckepack
  14. 14. Ungeplant Schön
  15. 15. Chliini Händ
  16. 16. Mutausbruch

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