laut.de-Kritik

Flüsterfolk-Meditationen zwischen Sufjan Stevens und ASMR.

Review von

Keiner kennt Charlie Cunningham und alle hören seine Lieder. Auf diese Idee könnte man jedenfalls kommen, wenn man auf der einen Seite die spärliche Medienpräsenz des britischen Singer-Songwriters registriert und auf der anderen Seite die hohen Streamingzahlen seiner Songs – die drei Alben und vier EPs, die der Musiker in den letzten zehn Jahren veröffentlicht hat, haben mittlerweile über eine halbe Milliarde Streams eingesammelt.

Trotz des Online-Booms seiner Songs sieht Cunningham die digitale Welt kritisch. Mit seinem vierten Album "In Light" will er bewusst einen Gegenimpuls zur Technologie der Künstlichen Intelligenz setzen: "Trotz einiger positiver Aspekte der KI hat man den starken Eindruck, dass sie alles andere als förderlich für den wahrhaftigen, menschlichen künstlerischen Ausdruck ist", erklärt Cunningham im Promotext. "Gerade deshalb ist es wichtiger denn je, das Echte einzufangen – was auch immer es ist, das uns menschlich macht. Etwas, das Computer oder KI in seiner Wahrhaftigkeit nicht reproduzieren können".

Auf der Suche nach echter Kunst, bringt Cunningham seine Indie-Folk-Pop-Ästhetik auf eine minimalistische Höchststufe. Mit flüsternder Stimme, zurückhaltender Akustikgitarre und feinen Klavierklängen entwirft der Brite dichte Klanglandschaften, die noch kontemplativer daherkommen als auf den Veröffentlichungen davor. Mit der Zeile "You’re here and this is now / It’s only a moment", erklärt der stille Performer in "This I Know" sein Meditationskonzept.

Mit kompromisslosem Nachdruck entsteht ein Flüsterfolk-Album, das in seinen besten Momenten in die Soundsphären von Sufjan Stevens oder Radiohead hineinschielt, und in seinen schwächsten mit sedativen Klangschleifen von José González oder gleich mit den Kitzeleffekten von ASMR flirtet. Die zehn Tracks teilen sich qualitativ erstaunlich klar auf. Anders als viele Alben, die mit einer starken ersten Hälfte loslegen und dann kaum Pulver übrig haben, bleibt "In Light" lange blass, um im zweiten Akt doch auf sein Potential zuzugreifen.

Gleichförmig kreisen die ersten fünf Songs um sich selbst. Weitgehend konturlos und ohne Höhen und Tiefen, lassen sich die melancholischen Akustikstücke kaum voneinander unterscheiden. So zurückhaltend, als hätte die Platte noch gar nicht begonnen, initiiert "Happening Lately" mit hypnotischem Flüstern und Fingerpicking den Schwebezustand, der das Album bestimmen wird.

Im Selbstgespräch reflektiert der Sänger, dass ihm die Worte fehlen ("Need to make myself more clear / Now I think that words have escaped me") und verspricht Durchhaltevermögen ("I'll sit with it / I'll wait until tomorrow (…) One of these days I’ll find / Whatever I’m to find"). Nur bleibt das Schwelgen in Vagheiten ohne mutige Akzente oder gar Brüche ästhetisch lediglich ein monotoner Versuch.

Cunninghams Kammerspiel kokettiert mit einem geheimnisvollen Kern, den es allerdings nicht findet. Formal fast identisch holt "Best Part" das Gegenüber dazu und verspricht wieder viel. Man müsse sich nur darauf einlassen: "Trust the bigger purpose will show itself too / If you allow them all to rise / What’s under the surface / Will found its way through cos you allow it too". Fraglich, ob ausgerechnet mit klischierten Signalen wie "bigger purpose" und "under the surface" ein Zeichen gegen die Formelhaftigkeit der Künstlichen Intelligenz gesetzt werden kann. Ähnlich vorhersehbar geraten auch "This House", "Core" und "(Interlude_".

Doch mit der zweiten Albumhälfte scheint sich das hartnäckige Mantra, dass da noch etwas Gutes ans Tageslicht kommen würde, tatsächlich zu erfüllen, die Lieder werden besser. Mit klirrenden und heulenden Synthsounds zelebriert "Shape Of Tomorrow" den zuvor nur leicht angedeuteten Kosmos elektronischer Klänge. Endlich bekommt das Geheimnisvolle glaubwürdige Texturen. Gerade auch im Verbund mit den Lyrics gelingt eine spannende Radiohead-Hommage.

Schon die Einstiegszeile spannt einen Bogen zum Werk der Oxforder Artrocker. Als Cunningham endlich vom Aufwachen singt ("It’s waking you from your sleep / Like a siren") – anders als noch bei "This I Know", wo er ”You just want to get some sleep” flüstert – zeigt sich der Bezug zum "Hail to the Thief"-Track "There, There" – dort warnt Thom Yorke: "There’s always a siren / Singin’ you to shipwreck". Auch die folgenden Strophen erschaffen in ihrer Skepsis gegenüber Digitalisierung und Kapitalismus deutliche Radiohead-Reminiszenzen.

Im Finale brillieren die Ballade "a Moment" und das Instrumentalstück "One in a Million". Hier gelingt es Charlie Cunningham, eine wertvolle Kontemplation nicht aus einem monotonen Klangkreis zu kreieren, sondern aus der Stille heraus mit pointierter Stimme und Klaviermelodie eine existenzielle Ebene zu errichten ("We were crystallising in the moment of our existence / Like it’s all that we had"). Stimme und Klang vereinen sich zu einem feierlichen Ereignis.

Trackliste

  1. 1. Happening Lately
  2. 2. Best Part
  3. 3. This House
  4. 4. Core
  5. 5. Interlude_
  6. 6. This I Know
  7. 7. Shape Of Tomorrow
  8. 8. A Moment
  9. 9. One In A Million
  10. 10. New Symmetry

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