laut.de-Kritik

Den DIY-Gedanken des Hip Hop trägt er immer noch in sich.

Review von

Seit 2001 veröffentlicht Clueso Alben, die – abgesehen vom Debüt "Text und Ton" – Gold- und Platinstatus erreichten. Dabei entwickelte sich der Musiker vom Rapper hin zum Sänger, der Pop nicht nur als gelegentlichen Ausflug, sondern als Steckenpferd versteht. Das brachte ihm nicht nur Freunde, aber eine um so größere Anhängerschaft, die ihn zum Rekordhalter der 1 Live Krone in der Kategorie 'Bester Künstler' machte.

"Zerkratzte Scheiben und mit Edding-Tags / hinten auf den Stühlen / damals konnt ich zu jeder Crew etwas erzählen", singt Clueso auf der Single-Auskopplung "Du und Ich" und erinnert damit an die längst vergangenen Tage als Vollzeit-Hip Hopper. Auch wenn es seiner Musik nicht mehr anzuhören ist, den DIY-Gedanken der größten Jugendkultur der Welt trägt er noch immer in sich. "Handgepäck I" beweist das wie kein anderes Album des Erfurters. Statt auf endlose Studiosessions und aufgeblasene Arrangements setzt der Musiker auf akustische Stücke, die er mit Laptop und Mikrofon selbst aufnahm.

Vor musikalischen Experimenten müssen sich Fans trotzdem nicht fürchten. Clueso liefert melodischen Gitarrenpop ab, der für die beste Sendezeit im Radio abonniert ist. Abenteuerlicher fällt hingegen die inhaltliche Idee von "Handgepäck I" aus. Das Album erzählt von den Reisen, die der Musiker immer wieder unternimmt. Es geht um das Wegfahren, um das Heimkommen und alles dazwischen. Dadurch funktioniert die Platte als zusammenhängendes Stück, aus dem einzelne Favoriten herausgepickt werden können, während sich der Reiz aber erst auf Gesamtlänge entfaltet.

Das beweist auch ein Blick auf die Tracklist, die mit dem "Aufbruch" beginnt, in der Mitte einen "Zwischenstopp" einlegt und mit der Ankunft in "Paris" endet. Wobei Ankunft in Cluesos Falle nur ein weiteres Wort für Zwischenstopp ist. Dass die Songs im Laufe der letzten sieben Jahre entstanden sind, aber nie auf einem Album landeten, ist das eigentlich Erstaunliche. Denn sie passen trotzdem zusammen wie neue Wanderstiefel zu Blasen am Fuß.

Neben konkreten Beschreibungen lässt Clueso viel Interpretationsspielraum. Reflexionen, Sehnsüchte, Konzentration aufs Wesentliche – nirgendwo reift man besser als auf Reisen. Clueso schrieb dazu erst einmal für sich selbst und dann für alle anderen einen Soundtrack: "Man sagt, alleine reist man so viel schneller / und ich zähl bis Hundert mit einer Hand / seltsam wie dieser Ausblick die Sicht auf alles verändert / man kann die Welt da unten nur erahnen". In die Falle des lyrischen Kitschs tappt er nur selten, wodurch Cluesos Wandertag generationsübergreifend begeistert.

Interessant wird es, wenn er das minimalistische Akustikgitarrenkonzept durch weitere Elemente ergänzt. "Zimmer 102" verwandelt das Hinterland Thüringens mit Banjo in den Wilden Westen. "Paris" schrammt mit Akkordeon nur knapp am Walzerklischee vorbei. Und "Wie versprochen" unterstreicht mit Cello die Schwermut des Abschieds. Abgesehen von den karibischen Rhythmen auf "Du und ich" klingt "Handgepäck I" sehr introvertiert. Selbst das Puhdys-Cover "Wenn ein Mensch lebt" fällt im Vergleich zum heiteren Original deutlich ruhiger aus.

Nach "Handgepäck I" werden es Clueso-Gegner schwer haben. Zu reif sind die Texte, zu hörbar die angenehm zurückgenommenen Instrumentierungen. Der Musiker hätte es sich einfacher machen und "richtige" Hits produzieren können. Stattdessen hat er sich auf sich selbst besonnen und eine Platte aufgenommen, die so nah dran ist an dem Menschen Thomas Hübner wie noch keine seiner Veröffentlichungen zuvor. Bleibt nur zu hoffen, dass – wie es der Titel vermuten lässt – noch ein zweiter Teil erscheint.

Trackliste

  1. 1. Aufbruch
  2. 2. Wie versprochen
  3. 3. Vier Jahreszeiten an einem Tag
  4. 4. Waldrandlichter
  5. 5. Stein
  6. 6. Einfache Fahrt
  7. 7. Zwischenstopp
  8. 8. Du und Ich
  9. 9. Wenn ein Mensch lebt
  10. 10. Wüste
  11. 11. Landstreicher
  12. 12. Zimmer 102
  13. 13. Kurz vor Abflug
  14. 14. Auf Kredit
  15. 15. Es ist schon spät
  16. 16. Dünnes Eis
  17. 17. Morgen ist der Winter vorbei
  18. 18. Paris

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7 Kommentare mit 3 Antworten

  • Vor 6 Jahren

    Don't feed the trolls - Gelungenes Album mit einigen Perlen und alles in allem sehr stimmig. "Auf Kredit" ist mega, gut gemacht! 4/5

  • Vor 6 Jahren

    Mein Transkind (3) hat mich grade darauf hingewiesen, dass auf laut zum Großteil nur Musik weissen Musikern, die sich als hetronominativer cis-Mann identifizieren rezensiert und positiv bewertet wird, so auch besagter Clueso. Werke von hervorragenden weiblichen Musikerinnen, wie Lady Bitch Ray, Sibel Schick oder der speckigen Schwabbeltussi die immer bei Böhmermann auftritt werden vollkommen ignoriert.

    Dieser Zustand ist für mich untragbar und wir haben in unserer Patchwork-Familie beschlossen, dass wir erst wieder eine CD von Clueso hören, wenn er sein Gesicht bunt anmalt und ein Konzeptalbum über das strukturelle Problem toxischer Männlichkeit macht.

    Aus diesem Grund ungehört 1/5.

  • Vor 6 Jahren

    Ist das jetzt so ein neuer joke bei laut.de, dass man irgendwelchen Schmonzalben 4 Punkte gibt oder ist Clueso hier tatsächlich fünf Meter über sich selbst hinausgewachsen? :confused: