laut.de-Kritik

Der Country-Klassiker von 1996 in neuem Gewand.

Review von

Kritiker können perfide sein. "Sie hat dasselbe Recht, ein Folkie zu sein, wie 10.000 mittelmäßige und wenige Dutzend geniale Musiker vor ihr ... Welch besitzt weder die Stimme, Beobachtungsgabe noch den Umgang mit Worten, um ihre Geschichten zum Leben zu erwecken. Wenn man nicht lediglich die guten Absichten berücksichtigt (eine Krankheit, die manche als Folkie-Syndrom bezeichnen), dürfte es das gewesen sein" sind 1996 die Worte von Robert Christgau, dem enorm einflussreichen Journalist des New Yorker Village Voice, über das Gillian Welch-Debüt "Revival".

Er irrte sich. Das Album gilt 20 Jahre später als das erste wichtige ihrer Karriere. An der Seite ihres Partners Dave Rawlings nimmt Welch zwar vergleichsweise selten neues Material auf, ihre Stücke sind aber zig mal gecovert worden. In Nashville ist sie eine Größe, zumindest im Bereich des Americana.

In New York geboren und in Los Angeles als Adoptivtochter zweier Songschreiber aufgewachsen, zieht Welch 1992 nach ihrem abgebrochenen Studium am Berklee College of Music (Fach: Songwriting) nach Nashville, mit ihrem Kommilitonen Rawlings (Fach: Gitarre) im Schlepptau. Den Vorwurf, über Lebenslagen und Gegenden zu singen, die ihr biografisch fremd sind, muss sie sich einige Jahre lang anhören. Dabei schreibt sie ihren bekanntesten Song "Orphan Girl" auf der Arbeit. Um sich das tägliche Brot zu verdienen, heuert sie als Putzfrau in einem Landhotel an.

"I have no mother, no father / No sister, no brother / I am an orphan girl." Zeilen, die keinen kalt lassen, dem sie sie vorspielt. 1993 nimmt Emmylou Harris das Stück auf. Begeistert ist auch T Bone Burnett, der Welch (und Rawlings) nach einem Auftritt kurzerhand vorschlägt, ihr Debüt zu produzieren.

Sie begeben sich nach Hollywood, wo sie zuerst in kleinem Rahmen aufnehmen, später mit einer hochkarätigen Session-Band, zu der Schlagzeuger Jim Keltner und Elvis Presleys Gitarrist James Burton gehören. Die letzten Stücke nehmen sie schließlich in Nashville auf.

Von den etwa 30 aufgenommenen Tracks landen zehn auf dem Album, das den Titel "Revival" erhält. In Welch' Archiv schlummerte also eine Menge Material, das sie nun auf zwei CDs verfügbar macht. Wie es sich gehört mit schöner Aufmachung und Kommentaren zu den einzelnen Stücken.

Am schwierigsten seien die Aufnahmen zu "Orphan Girl" ausgefallen, schreibt sie. Take für Take sei entstanden, schließlich entschieden sie sich für eine Version, in der Rawlings fast durchgehend Hintergrundgesang beisteuerte und zum Schluss einzelne Noten auf einer verzerrten E-Gitarre zu hören sind.

Welch klingt darin ungewohnt müde, fast schon zaghaft. Die alternative Version, die "Bootleg" eröffnet, hört sich da schon besser an. Interessant zu erfahren, wie sich der Song entwickelt hat, denn in der ganz frühen Aufnahme auf CD 2, kurz nachdem sie den Song geschrieben hatte, sang sie ihn noch wesentlich höher.

Die Entdeckungsreise lässt sich fast endlos fortsetzen. Burnetts Ansatz, klanglich noch mal einen draufzusetzen, stieß bei Welch und Rawlings auf wenig Begeisterung. Natürlich wusste der Produzent, was er tat, schließlich sollte sich die Platte auch verkaufen. 1996 war das mit einem rein akustischen Album nicht möglich. Viele der alternativen Versionen kommen also ohne Session-Musiker aus und klingen daher mehr nach traditionellem Country.

Mit dabei sind auch einige Stücke, die es nicht in die Tracklist schafften. Sie fügen sich nahtlos ein und hinterlassen nicht unbedingt den Eindruck, schlechter zu sein. Letztlich ist "Bootleg" also schon fast eine Fortsetzung von "Revival". Durchgehend hörenswert.

Eine Einschätzung, die Christgau nicht teilte. Wie auch die potentiellen Abnehmer, denn das Album verkaufte sich trotz des Aufwands nicht sonderlich gut. Immerhin erhielt es eine Grammy-Nominierung und ermöglichte Welch (und Rawlings) eine professionelle Karriere als Musiker.

"Ich freue mich, dass die Stücke die Jahre überstanden haben. Die ersten Lieder, der erste Roman oder der erste Film bleiben immer etwas Besonderes, weil sie anders sind als das, was folgt. Etwas passiert in jenen Anfängen. Vielleicht, weil man sich durchsetzen muss. Sie besitzen die Reinheit und Härte eines Diamanten, etwas, das später nicht mehr vorhanden ist", so Welch. "Vielleicht war es bei mir auch ein Mangel an Persönlichkeit. Davor gab es kein 'ich', keine Künstlerin namens Gillian Welch. Danach schon".

Trackliste

CD 1

  1. 1. Orphan Girl (Alternate Version)
  2. 2. Annabelle (Alternate Version)
  3. 3. Pass You By (Alternate Version
  4. 4. Go On Downtown (Revival Outtake)
  5. 5. Red Clay Halo (Revival Outtake)
  6. 6. By The Mark (Alternate Mix)
  7. 7. Paper Wings (Demo)
  8. 8. Georgia Road (Revival Outtake)
  9. 9. Tear My Stillhouse Down (Home Demo)
  10. 10. Only One And Only (Alternate Version)

CD 2

  1. 1. Orphan Girl (Home Demo)
  2. 2. I Don't Want To Go Downtown (Revival Outtake
  3. 3. 455 Rocket (Revival Outtake)
  4. 4. Barroom Girls (Live Radio)
  5. 5. Wichita (Revival Outtake)
  6. 6. One More Dollar (Alternate Version)
  7. 7. Dry Town (Demo)
  8. 8. Paper Wings (Alternate Mix)
  9. 9. Riverboat Song (Revival Outtake)
  10. 10. Old Time Religion (Revival Outtake)
  11. 11. Acony Bell (Demo)

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