laut.de-Kritik
Französischer Rap bricht Herzen und Halswirbel.
Review von Dani Fromm"Microphone check, tout est prêt pour agiter la fête." Bereit? I AM jedenfalls, die stehen bereit, um die kopfnickende Welt im Sturm zu nehmen. Die ganze Welt, nicht etwa nur ein paar vereinzelte Hanseln: "Une musique pas faite pour cent personnes mais pour des millions", gebannt auf ein von vorne bis hinten großartiges Album.
Dass "L'Ecole Du Micro D'Argent" in vielen Auflistungen der besten Hip Hop-Platten aller Zeiten unter den Tisch fällt, hat nur einen einzigen Grund: Französische Texte haben es außerhalb des frankophonen Raums einfach immer noch schwer. Was die ferne US-amerikanische Westküste zu bieten hat, steht hiesigen Rap-Fans oft präsenter vor Augen als die Perlen, die nur einen Katzensprung weiter westlich direkt vor unserer Nase im Staub herumkullern. Ein veritabler Skandal.
Dabei bietet sich gerade "L'Ecole Du Micro D'Argent" an, um elegant über die Sprachbarriere hinweg zu flanken. Ach, Bullshit! Um die Sprachbarriere über den Haufen zu rennen und zu Staub zu zermalmen! Diese Platte funktioniert nämlich auch dann noch prächtig, wenn man kein einziges Wort versteht: Atmosphäre braucht keine Worte.
Die Produktionen liefern ein Paradebeispiel nach dem anderen dafür, wie sich Stimmungen und Emotionen in Beats übersetzen lassen. Das übernehmen Imhotep und Akhenaton. Ausnahme: für "L'Enfer" steht DJ Kheops und bei "Demain, C'Est Loin" Shurik'n an den Reglern. Alle verbindet: Sie fangen die Dramatik ein und erschaffen daraus akustische Finsternis, deren Schwärze gelegentlich aufglitzernde schwache Hoffnungsschimmer noch betonen. Die Spannungsbögen reichen von der tiefsten Vergangenheit in eine ungewisse, auf jeden Fall wenig rosig anmutende Zukunft, von mystischen Klängen wie den repetitiven, an Möchchsgesänge erinnernden Weisen im Titeltrack zu ganz irdischem Dreck.
Vom reduzierten Ansatz mit staubigen Drums aus "Regarde" über den Collagencharakter von "Libère Mon Imagination" bis hin zum Breitwandkino-Sound aus "L'Empire Du Côte Obscur", Imhoteps höchst wirksamer Werbeveranstaltung für die dunkle Seite der Macht, zeigen die Beats enorme Bandbreite, atmen aber dennoch einen gemeinsamen Geist: Näher als I AM kam in Europa wohl niemand an den Vibe aus den 36 Kammern. Die Einflüsse von RZA und Wu-Tang Clan lassen sich weder überhören noch leugnen. Das will ja auch niemand.
Die erzählerischen Fähigkeiten der MCs, Engagement, Hingabe, Hunger und Biss, erschließen sich dem Hörer ebenfalls ohne Kenntnis der französischen Sprache. Wenn desillusionierte Resignation in rasenden Zorn über die Ungerechtigkeit der Verhältnisse umschlägt, wenn sich Unzufriedenheit in unglaublich giftigem Flow Bahn bricht, wenn Trauer und Wut den Boden für den drohenden, den dringend nötigen Aufruhr bereiten, dann vermitteln das Shurik'n und Akhenaton allein schon mit der Art, dem Tonfall, der auch ohne Worte bildgewaltigen Macht ihres Vortrags. Man sollte sich von seinem eigenen lückenhaften Vokabular bloß nicht abhalten lassen: In der Schule des Silbernen Mikrofons gibt es auch für Nicht-Muttersprachler Einiges zu lernen.
Französischlehrer, die inzwischen schon auf den Nervenzusammenbruch zuschlittern, dürfen die Schnappatmung jetzt einstellen: Natürlich gewinnt "L'Ecole Du Micro D'Argent" über seine Texte noch einmal mehrere Dimensionen an Tiefgang. Zumal auch die Rapper selbst ihren Inhalten enorme Bedeutung beimessen: "Mon délit est de parler haut", deklariert Akh unverblümt seine Absichten. "Relater ce que mes consors, n'exprimeront jamais dans un micro."
Bei Shurik'n klingt das so: "Ce noir constat m'oblige à prendre des risques / À libérer ma pensée, à devenir un journaliste / Un fugitif, un dénonciateur, un haut-parleur." Sprachrohr sein, den Stummen, Missachteten, Geächteten eine Stimme geben: Damit stehen I AM in bester Message-Rap-Tradition.
Jugendgewalt, Gewalt in den Medien, Zensur und wie all das miteinander zusammenhängt. Rassismus, soziale Ungleichverteilung, die wiederum fast zwangsläufig Gewalt nach sich zieht. Nicht zu vergessen die Trauer, die zurückbleibt, wo Gewalt ihre Schneisen geschlagen hat: So sehen die Themen aus, die im echten Leben in der Banlieue von Marseille auf den Nägeln brennen.
I AM besinnen sich der Wurzeln ihrer Kultur ("... me rappelle que ma musique est née dans un champ de coton") und schlagen die Brücke in die Gegenwart, zitieren je nach Bedarf Victor Hugo, Sartre und "Star Wars". Das leider alltägliche Szenario aus "Un Cri Court Dans La Nuit" oder doch "Petit Frère", das zu unaufhaltsam tropfendem Beat die Katastrophe, auf die der kleine Bruder zusteuert, schon vorweg nimmt: Man vermag kaum zu entscheiden, worin mehr Tragik, mehr Brutalität, mehr Sprengkraft steckt.
Man könnte leicht verzweifeln - oder aber den Kampf aufnehmen, der, so lange nicht bis zum bitteren Ende ausgetragen, auch noch nicht entschieden ist. Lachen gehört seit jeher zu den Waffen der Verzweifelten und gibt mitunter ein höllisch scharfes Schwert ab. Humor, Doppelbödigkeit und Selbstironie sind demnach nicht nur erlaubt, sie sind dringend nötig, um in der Realität nicht abzusaufen - genau wie Verbündete: Timbo King, Dreddy Krueger und Prodigal Sunn erweitern in "La Saga" den royalen Familienkreis. Für "L'Enfer" verbraten I AM einen alten Freestyle ihres früheren Weggefährten East, der 1996 bei einem Verkehrsunfall ums Leben kam.
"L'Ecole Du Micro D'Argent" birgt alle Elemente eines wahrhaftig großen Rap-Albums: Party und Straßenkampf, Witz und Scharfsinn, Haltung und Pose. Diese Platte bricht Herzen und Halswirbel, reißt Bretter von Stirnen und Scheuklappen von den Augen. Eigentlich empörend, dass sie außerhalb Frankreichs noch immer derart unter dem Radar fliegt, dass das allwissende weltweite Netz nicht eine ordentliche deutschsprachige Review ausspucken will. Zu Hause, immerhin, sehen die Dinge ein wenig anders aus:
Mit "L'Ecole Du Micro D'Argent" legten I AM nicht nur das am schwungvollsten unter die Grande Nation gebrachte Album ihrer Karriere, sondern das kommerziell erfolgreichste französische Hip Hop-Album überhaupt hin. Die Verkäufe erreichten mühelos Diamant-Status. Fans wie Kritiker feiern die Platte als Höhepunkt der Diskografie der Crew - eine Meinung, die man in deren Reihen nicht gänzlich teilt. Einigkeit herrscht weithin darüber, dass es sich um einen echten Klassiker handelt, der französischen Hip Hop in eine neue Ära geführt hat. Das abschließende neunminütige "Demain, C'Est Loin" gilt als die französische Rap-Hymne schlechthin.
Bei der Verleihung der French Music Awards 1998 bekommen I AM den Preis für das Album des Jahres zugesprochen. Nicht für das beste Hip Hop-Album, wohlgemerkt. Für das beste Album. Mit jedem Recht der Welt. "Bouges ta tête!"
In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.
9 Kommentare mit 6 Antworten
Wenn Lauti das macht, will ich auch mal: Wo ist der Meilenstein?
Ich verstehe zwar nix, aber fühle den Pain! Dazu großartige Beats!
gewählt - gespielt!
ja das ist ein tolles Ding. Fand ich auch.
"Französischer Rap? Sie wollen mich verarschen, oder? Come On! Das ist mit Abstand das Absurdeste, das ich seit Jahren gehört habe: Rap mit französischen Texten. Heilige Scheiße."
Das Ding is natürlich n' Klassiker, während hierzulande noch der große Kindergeburtstag ablief.
MS, ohne wenn und aber!
Ich liebe das Teil, in Frankreich gilt es sowieso als eine, wenn nicht die wichtigste Hip-hop-Platte mit Französische Texte. Da die Samplers und der Flow wirklich cool sind, auch für nicht-Frankofone zugänglich. Allerdings ist das vielgelobte "demain c´est loin" nur dann wirklich beeindruckend, wenn man den Text versteht. So oder so: Gute Wahl!
natürlich gutes teil. generell sind ntm besser