laut.de-Kritik

Der Frühling ist flüchtig, aber er kommt wieder.

Review von

Auch wenn IU objektiv koreanischen Pop macht, ist es vielleicht gar nicht so hilfreich, sie an einem K-Pop-Framework zu messen. Stimmt schon, dass sie die selben Produzenten und Formen verwendet und nach den Regeln der Industrie spielt. Aber nach knapp einem Jahrzehnt als Koreas erfolgreichste Solokünstlerin zeigt "Lilac", dass sie ein absoluter Album-Artist ist. Ihre melancholische Frühlings-Platte kuratiert entspannte, himmelblaue Atmosphären aus City Pop, Disco und Balladen und macht daraus einen kohärenten, nahezu perfekten Pop-Vibe.

Treffsicher zielt sie auf das musikalische Understatement. Weder die poppigen, noch die melodramatischen Elemente des Albums drehen die Energie zu weit auf, stattdessen frönt IU den besten Qualitäten ihrer Stimme: Der Leichtigkeit. Das eröffnende Trio wühlt in der City Pop-Kiste (die sie mit ihrem Meisterwerk "Modern Times" schon zu genüge erkundet hat) und mischt ihr das Disco-Revival des Tages unter. Heraus kommen Hits wie der Titeltrack, der sich anschmiegt wie Daunenregen, aber auf der messerscharfen Bassline keine Sekunde die perfekt gehaltene Spannung verliert. Jene Bassline groovt wasserdicht, ohne laut und aufbrausend werden zu müssen und IU gleitet schwerelos an Retro-Synthlines, kurzen Piano-Riffs und Blechbläsern vorbei.

Sie lässt es eben so einfach aussehen, wenn sie singt. Trotz ihrer fantastischen Technik und Agilität als Sängerin wirkt es keine Sekunde, als wäre Singen Arbeit für sie. Es klingt wie natürliche Kommunikation, als hänge sie im Hinterkopf ganz anderen Gedanken nach. Gegen die warmen, einladenden Instrumentals entstehen Texturen, die offen klingen, frühlingshaft, Musik, um am ersten Apriltag auf der Wiese zu liegen. "Flu" und "Ah Puh" holen diese unendlich eingängigen, kurzweiligen Vocal-Melodien heraus, die die Platte eingängig machen. Und dann halten wieder Nummern wie "Empty Cup" dagegen, die in ihren unterschwelligen Bedroom-Pop-Arrangements dösig und friedlich klingen.

Doch nicht alles auf IUs Frühlings-Album ist eitel Sonnenschein. So leicht und warm die Platte klingen mag, haftet ihr wie allem besten City Pop doch immer auch ein Unterbau der Schwere nach. Immerhin handelt auch fast jeder Song zu einem gewissen Grad von unvollkommener Liebe, von Trennungen und Frustration, und bringt dem gegenüber auch ein paar ziemlich pointierte Textstellen mit.

"Es geht ein schwacher Wind / In dieser angedeuteten Jahreszeit / und er ist mir absolut nicht fremd / mein Herz greift nach ihm, nur für alle Fälle", singt sie zum Beispiel (grob aus dem koreanischen übersetzt) auf "Hi Spring Bye" und findet Bilder in der blühenden Jahreszeit, die nach bester Barock-Logik Herzschmerz und Hübschheit in Einklang bringen. So geschehen funktionieren die ambitionierten Balladen "Hi Spring Bye" und "My Sea" als Anker der Platte. Es ist die Konkretisierung der Melancholie, die auch den fröhlichen Nummern der Platte anhaftet, als würde ein verdrängter Hintergedanke zwischenzeitlich an die Front treten, um die träumerische, eskapistische Qualität der anderen Songs ein bisschen weiter zu unterwandern. Das drückt sie in Sprachbildern aus, aber auch in eindrucksvollen Vocal-Runs, abgerundet von überraschend detaillierten Sound-Collagen: E-Orgeln, Ambience, elektronische Loops und ätherisches, himmlisches Vocal-Layering geben den Fünfminütern die Würde und Schwere, ihren emotionalen Ballast zu stemmen.

Schließlich sind aber nicht nur die beiden Balladen schwermütig und die Pop-Songs leichtfüßig, das Schöne an "Lilac" ist, wie die Wasser-farbigen Songs sich durch den gegenseitigen Kontext in Grauzonen mischen. Vor allem dann, wenn Songs wie "Celebrity" und "Epilogue" den Hybridzustand beschreiben. Leadsingle "Celebrity" zum Beispiel klingt erst nach generischem Future Bass, wenn der Song sich zuerst durch die altbewährte Songstruktur trägt. Aber IUs stille Erzählerperspektive und das unaufdringliche Arrangement entfalten doch schrittweise ihre Wirkung, bis der überraschend klangtiefe Drop schließlich wie ein wohlverdienter Höhepunkt auf dem Album wartet. Es ist ein geschmackvoller EDM-Einsatz, organisch in den Flow des Projekts eingepflegt und sinnvoll für den Spannungsbogen verwendet.

Schließlich kann man "Lilac" als Pop im ureigenen Sinne beschreiben, schlicht und effektiv in den Kompositionen, aber vielschichtig und eindrucksvoll im Effekt. "Lilac" funktioniert als Moodboard für den Frühling, als Pop-Album und als Playlist aus hocheffektiven Basslines und Vocal-Melodien. Mit ihrem klug arrangierten Genre-Mix zeichnet IU Frühlingsgefühle nach, die sich überraschend komplex in verschiedene emotionale Richtungen ausbreiten. Dass es dann noch catchy wie blöd ist, wie sie die besten Teile aus City Pop, Disco und Electro-Pop verwebt, setzt dem Ganzen nur die Krone auf.

Was sonst hätte man von IU auch erwartet? Über die letzten Jahre ihrer Karriere hat sie bewiesen, dass sie der K-Pop-Industrie ihre eigenen Vorstellung von Sound und Kohärenz abringt. Und die Ergebnisse sprechen einmal mehr für sich.

Trackliste

  1. 1. Lila
  2. 2. Flu
  3. 3. Coin
  4. 4. Hi Spring Bye
  5. 5. Celebrity
  6. 6. Troll (feat. Dean)
  7. 7. Empty Cup
  8. 8. My Sea
  9. 9. Ah Puh
  10. 10. Epilogue

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3 Kommentare mit 2 Antworten

  • Vor 3 Jahren

    Die englische Übersetzung in Schriftart Comic Sans schreit geradezu Seriosität.
    "I hate the boredom of swallowing us, [...]
    Feel free to blame me and scratch me, [...]
    The buring emotions remain crumbs."
    Iz kla.

  • Vor 3 Jahren

    Was wäre laut.de mittlerweile ohne Yanniks Fetisch für koreanische Mädels? Sicherlich weniger lustig. Da kann man ihm seinen Haß auf Musiker aus der Tiefsee fast schon verzeihen.

  • Vor 3 Jahren

    Nun ja. Ist wieder mal so ein Beispiel für guten K-Pop, ja, das gibts. Muss ich mir deswegen aber nicht anhören, weil nicht mein Genre. "Flu" und "Ah Puh" (ich meine, der Simpsons-Charakter wird anders geschrieben) entgehen jedoch leicht dem "Einmal-gehört-und-für-Schmutz-befunden"-Schicksal. Fast schon erschreckend hörbar.

    Man kann Fahrstühle schlimmer beschallen.