4. Februar 2025

"Follower sind nicht die echte Welt"

Interview geführt von

Sein Debütalbum "Universal Credit" wurde vom Guardian als "era-defining album" betitelt, jetzt steht der Nachfolger "Airbag Woke Me Up" des britischen Rappers Jeshi an.

Ob es wieder alles verändern wird, interessiert den Londoner herzlich wenig. Der Stempel des politischen Kämpfers für die Unterdrückten ist jedenfalls zu klein geworden, Jeshi tobt sich inhaltlich komplett aus und versucht seine vielschichtige Persönlichkeit in ein Potpourri der Einflüsse zu integrieren, ohne den Überblick zu verlieren. Bei der Menge an Inspirationen eine echte Mammutaufgabe, die er allerdings in ein geordnetes Chaos bringt, über das wir im Interview gesprochen haben.

Kannst du bitte einmal kurz beschreiben, wo du herkommst und in was für einem Umfeld du aufgewachsen bist?

Ich bin in Ost-London aufgewachsen, wo ich bis heute lebe. Hier habe ich auch angefangen, Musik zu machen. Der große Vorteil, in London aufzuwachsen, ist, dass es ein kulturell sehr vielfältig geprägter Ort ist, wo man so viel grandiose Musik und Kunst erleben kann. Es ist ein Schmelztiegel, in dem du alle Facetten unserer Gesellschaft erleben kannst, was dich zu einer vielschichtigen Person macht. London ist nicht wirklich aufgeteilt in schöne und hässliche Teile, es gibt keine strikte Trennung der Viertel. Da stehen super teure Häuser direkt neben grauen Wohnblöcken, das kann ganz normal nebeneinander koexistieren, was ich wirklich sehr an London mag.

Wann hast du mit Musik angefangen und warum?

Ich hatte nie den Moment, wo ich gesagt habe, dass es das ist, was ich unbedingt mit meinem Leben machen möchte. Aber in der Schule als ich vielleicht 12/13 Jahre alt war, hatte ich ein paar Freunde aus meiner Gegend kennengelernt, die bereits mit Musik herumspielten und ich fand das interessant. Damals war mir gar nicht klar, dass ich Geld verdienen könnte, indem ich Musik in meinem Schlafzimmer aufnehme und sie dann ins Internet stelle. Es war mindblowing und sehr inspirierend für mich, als ich gesehen habe, welche Resonanz einige Songs von Freunden damals auf MySpace bekommen haben. Also habe ich ebenfalls damit angefangen und wir haben viel herumexperimentiert, aber es hat dann noch eine ganze Weile gedauert bis wirklich etwas Ernsthaftes daraus entstanden ist.

War es von Anfang an Rap oder hast du dich auch in anderen Genres ausprobiert?

Zunächst war es vor allem Grime, einfach weil das zu dem Zeitpunkt riesig in England war, aber die Sachen, die ich dann wirklich veröffentlicht habe, waren von Anfang an Rap. Ich war aber schon immer inspiriert von anderen Genres, die einen großen Einfluss auf meine Musik hatten und noch immer haben.

Du hast dein Debütalbum "Universal Credit" 2022 veröffentlicht. Wie blickst du heute darauf zurück?

Ich bin stolz auf das Album. Es kostet immer viel Überwindung, das allererste Album zu veröffentlichen und ich bin froh, dass ich mich davon nicht beeindrucken lassen habe, denn dieses Debüt hat mein Leben sowohl künstlerisch als auch privat komplett verändert. Es war Wahnsinn, wieviele Leute sich darin wiedergefunden haben und wieviel ihnen die Songs bedeuten.

The Guardian hat dein letztes Album als "era-defining album" beschrieben. Wie hast du darauf reagiert?

Weißt du, es freut mich immer, wenn jemand etwas Nettes zu meiner Musik zu sagen hat. Speziell wenn es ein Magazin wie der Guardian ist, weil schon eine gewisse Differenz besteht zwischen der kleinen Nische, die ich besetze, wo die Leute sich wirklich intensiv mit der Musik beschäftigen, und einem Mainstream-Magazin wie eben dem Guardian. Es war toll, dass ich meiner Familie zeigen konnte, dass ich in einer Zeitung bin, die sie regelmäßig lesen und kennen.

"Ich hasse es, wenn sich Leute zwanghaft auf ein Genre festlegen"

Auf deinem neuen Album "Airbag Woke Me Up" rappst du u.a. auf Drum'N'Bass-Beats, was ich so bisher nur im UK gehört habe, in keinem anderen Land. Ist das etwas, mit dem du aufgewachsen bist oder warum pickst du so spezielle Beats?

Ich bin einfach stolz darauf, wo ich herkomme und es ist mir wichtig, verschiedene Sounds aus dem UK einfließen zu lassen, die mir viel bedeuten und sie anschließend auf meine Weise zu interpretieren. Außerdem mag ich einfach generell verrückte Dinge, Sachen die abgefahren klingen. Mich hat nie so wirklich interessiert, was andere vor mir gemacht haben, ich wollte viel lieber was Eigenes kreieren.

Dein Album hat wirklich einen sehr vielseitigen und teilweise chaotischen Sound. Wie schaffst du es, das Album gleichzeitig chaotisch und trotzdem absolut kohärent zu gestalten?

Mir war wichtig, dass jede Idee eine gewisse Integrität hat. Obwohl die Sounds so unterschiedlich klingen, sind es meine Songs, die meine Handschrift tragen. Auch meine Stimme ist sehr prägnant. Ich hasse es, wenn sich Leute zwanghaft auf ein Genre festlegen und dann plötzlich ihr Jungle- oder ihr Countryalbum machen. Das alles kann auf einem Release nebeneinander existieren. Alle Alben, die ich mag, sind so aufgebaut. Chaos ist wunderschön, ich mag Chaos und Chaos hält das Album zusammen.

Würdest du dich auch selbst als chaotische Person beschreiben und nutzt du deine Musik als Ventil dafür?

Ja, definitiv, das Leben gleicht einer Achterbahnfahrt und ist mit seinen ständigen Höhen und Tiefen immer ein wenig chaotisch. Das macht das Leben am Ende erst so aufregend und lebenswert. Das möchte ich auf jeden Fall über meine Musik transportieren, vor allem auf Albumlänge, da es es sich über die längere Spieldauer am besten darstellen lässt. So kann ich alle Seiten von mir als Person zeigen, niemand ist charakterlich einseitig.

Dein erstes Album handelte viel von dem Struggle der Arbeiterklasse, sozialer Ungerechtigkeit und ähnlichen politischen Themen. Das hast du bewusst hinter dir gelassen, sprichst von einem Awakening. Kannst du das etwas genauer beschreiben?

Auf "Universal Credit" habe ich wirklich schwere Themen behandelt und ich wollte einfach zeigen, dass inhaltlich noch mehr in mir steckt. Manchmal drehen wir uns über die Ungerechtigkeiten der Welt so sehr im Kreis, dass es dem Umgang damit eher schadet als hilft. Ich möchte also beide Seiten zeigen, ich habe es nicht komplett abgelegt, möchte aber auch nicht ausschließlich die Stimme der arbeitenden und kämpfenden Bevölkerung sein.

Der Albumtitel "Airbag Woke Me Up" und "You Snooze You Loose" sind inspiriert von einem Autounfall, den du vor Jahren hattest. Was ist die Geschichte dahinter?

Als ich 17 oder 18 war, war ich ein echter Idiot, wie vermutlich viele Teenager. Ich war noch sehr spät zusammen mit Freunden im Auto unterwegs, bin am Steuer eingeschlafen und habe dadurch einen Unfall gebaut. Zum Glück ist nichts schlimmeres passiert, der Airbag hat es tatsächlich verhindert, aber es bleibt eine Geschichte, die wir uns bis heute immer wieder erzählen. Außerdem klingt das von den Worten her einfach gut für einen Song: "I fell asleep and airbag woke me up". Und irgendwie hat es auch zu dem neuen Kapitel nach meinem Debütalbum "Universal Credit" gut gepasst. Es ist eine Metapher für alles, was ich bisher erlebt und hinter mir gelassen habe. Eben dieses Awakening, was ich gerade erwähnt habe. Ich möchte mich nicht mehr so auf die schlechten Dinge konzentrieren, sondern viel mehr auf die guten Dinge, die jetzt kommen werden. Deshalb war der Autounfall eine Inspiration.

Jeder hat über dich als politischer Rapper gesprochen und du möchtest das nun hinter dir lassen. Wir leben aber in Zeiten von wachsender sozialer Ungerechtigkeit und einem Rechtsruck in ganz Europa. Denkst du nicht, dass es gerade jetzt starke politische Stimmen unter den Künstlern braucht?

Definitiv, es bleibt unglaublich wichtig, bestimmte Dinge anzusprechen. Es sollte sich jedoch die Balance halten. Niemand besitzt die Kapazitäten, sich 24/7 mit politischen Inhalten zu beschäftigen und ich möchte die Fans in jeder Lebenslage unterstützen. Menschen sind dafür einfach viel zu komplex und Politik macht vielleicht 30% meiner Gedanken aus, ich möchte aber alle meine Gedanken in meiner Musik ausdrücken.

"Die Welt ist gelangweilt von Menschen, die immer perfekt aussehen und sich perfekt verhalten"

Du lässt dich von sehr unterschiedlichen Künstler*innen aus vielen verschiedenen Genres inspirieren. Ich habe das Gefühl, dass das ebenfalls ziemlich typisch für die UK-Rap-Szene ist. Was denkst du, wo das herkommt?

Ich denke, das liegt an der Kultur hier in England, die Leute interessieren sich für eine weite Bandbreite an Musik. Egal, wie unterschiedlich die Musik am Ende klingt, man findet immer Gemeinsamkeiten zwischen den verschiedenen Genres und die Musiker*innen sind sich trotzdem sehr ähnlich.

Auch abseits deiner Musik bist du erstmal offen für alles. Du spielst nicht nur auf HipHop-Events oder Veranstaltungen, du hast u.a. mit Nike gearbeitet und warst z.B. in der britischen Vogue. Trotzdem habe ich das Gefühl, dass du keine Kompromisse machst und einen ziemlich rücksichtslosen musikalischen Ansatz hast. Das ist schon etwas Besonderes in einer Zeit von maximal angepassten Social-Media-Auftritten, die vor allem irgendwelchen Großkonzernen gefallen sollen. Denkst du wir brauchen wieder mehr speziellere Charaktere wie dich in der Mainstream-Kultur?

Total, das ist absolut wichtig, einfach weil es realistisch ist. Die Welt ist gelangweilt von Menschen, die immer perfekt aussehen und sich perfekt verhalten. Damit kann man sich nicht identifizieren und es entspricht auch nicht der Realität. Es setzt nur unerreichbare Maßstäbe für die Leute, die sie nie erreichen können. Wir müssen diese ganzen perfekten Influencer*innen und Musiker*innen einfach loswerden.

Du kommst auf Tour, nicht nur im UK, sondern in ganz Europa. Ich finde interessant, dass du im Vergleich zu anderen Artists zwar weniger Klicks im Internet hast, dafür aber deutlich mehr und größere Shows spielst.

Das Internet ist einfach fake, Follower sind nicht die echte Welt, sie können über Social Media nicht unbedingt connecten, das funktioniert vor allem auf Live Shows. Es ist ein großer Unterschied, ob du einfach eine Person aus dem Internet oder ob du ein ernstzunehmender Künstler bist, mit dessen Musik sich die Leute identifizieren können. Wir lassen uns leider zu schnell von den Zahlen auf Social Media blenden.

Denkst du, deine Fans sind besonders eng mit dir verbunden? Die Kommentare unter deinen Videos sind schon immer sehr leidenschaftlich.

Das ist wieder der Vorteil eines Albums, denn damit können sich die Leute viel besser identifizieren, da du deine ganz Persönlichkeit zeigen kannst. Es freut mich immer sehr, dass ich Fans habe, wo ich merke, dass ihnen die Musik wirklich viel bedeutet. Ein TikTok-Hype kann sehr flüchtig sein, aber ein Album bleibt etwas Dauerhaftes.

Was können wir von deiner Liveshow erwarten? Wird sie so chaotisch wie deine Musik?

Nein, nicht unbedingt. Liveshows sind wirklich wichtig für mich, um nach der langen Arbeit auch die Reaktionen der Fans zu sehen. Es gibt Momente des Chaos und Momente der Ruhe in meinem Set. Es ist eine tolle Erfahrung und ich freue mich sehr auf die kommende Tour.

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