laut.de-Kritik
Emotionale, ideologische und globale Gegensätze lösen sich auf.
Review von Toni HennigIn den letzten zwei Jahren erschienen von der US-Amerikanerin Káryyn, die über armenische und syrische Wurzeln verfügt, mehrere Singles auf ihrer eigenen Plattenfirma Antevasin und auf Mute. Die bündelt man nun, ergänzt mit noch unveröffentlichten Tracks, zum Debüt "The Quanta Series".
Der Albumtitel stellt nicht umsonst einen Bezug zur Quantenphysik her. In "Ever" widmet sich Káryyn diesem Thema, während sich körperliche, bedrohliche Bässe, verspielte Elektronik und kaum wahrnehmbare Nebengeräusche um ihre emotionale Stimme schmiegen, die sich unaufhaltsam in die Höhe schraubt. Die schichtet sie gegen Ende zu einem schwerelosen Chorgesang, so dass sich neben der naturwissenschaftlichen Ebene eine spirituelle auftut.
Schon hier wird deutlich, dass Káryyn, die ihren Namen und ihr Alter nicht verrät, eine spezielle Wahrnehmung von Raum und Zeit besitzt. Sie gilt nämlich als 'highly sensitive person', kurz HSP. Das heißt, dass sie Außen- und Sinnesreize viel intensiver wahrnimmt als Menschen, die nicht unter dieses Phänomen fallen. Deswegen hat sie immer wieder mit starken, kaum auszuhaltenden Gefühlen, rasenden Gedanken, Lärmempfindlichkeit sowie körperlicher und seelischer Anspannung und innerer Nervosität zu kämpfen.
Wenn sie in "Yajna" unsicher und nahezu hilflos anmutend gegen harte digitale Bässe, zischende Snares, hektische Elektroniksounds und dräuende Drones ankämpft, die gleichzeitig dumpf auf sie einprasseln, erhält man einen guten Eindruck davon, wie sich die Welt für sie anfühlen muss. Das Gefühl, etwas benommen und zurückgetreten zu sein, zieht sich so gut wie ausnahmslos durch dieses Werk.
Außerdem kommt Káryyns empfindsame Seite in "Purgatory" besonders zum Tragen: Zu sphärischen Drones singt sie von ihren Kindheitserinnerungen in Syrien. Dabei klingt ihr zerbrechlicher Gesang, der schon beinahe zu tief unter die Haut geht, so, als wolle sie ihre Vergangenheit ins Fegefeuer werfen.
Ihre Familie zog es nämlich jedes Jahr für mehrere Monate nach Aleppo, kurz nachdem die US-Amerikanerin das erste Lebensjahr überschritt. Die Urgroßmutter ihres Vaters, einem Physiker, floh jedenfalls nach Syrien, weil ihr Mann den Völkermord in Armenien im 20. Jahrhundert nicht überlebte.
In der ehemaligen Millionenmetropole hatte man sie Káryyn genannt. Dort lernte sie auch noch ihren ersten Freund kennen, der ihr 2001 eine Kamera schenkte. Mit der filmte sie die Straßen dieser Stadt. In die begab sie sich 2011 zum letzten Mal, um sterbende Verwandte zu besuchen. Weitere Besuche wären dann zu gefährlich gewesen, da der Bürgerkrieg in Syrien die Metropolen erreichte.
Dass das Visuelle bei ihr eine genauso wichtige Rolle wie die Musik einnimmt, verdeutlicht sie mit "Aleppo". Im Video sieht man die Straßenszenen, die sie einst dort drehte, angereichert mit Familienaufnahmen. Dazu dienen trappige Bässe, elektroakustische Einschübe und ihre Stimme, die ätherisch durch den Äther gleitet, als Reiseführer. Der Schmerz von "Purgatory" weicht hier einer gewissen Sehnsucht. Dadurch erklärt Káryyn der Stadt ihre Liebe.
Ganz anders "Ambets Gorav", einem armenischen Volkslied. Wenn der Gesang der US-Amerikanerin, begleitet von meditativen folkigen Drones, immer wieder ins Brüchige und fast schon Weinerliche abgleitet, verleiht das dem Stück ein ganz eigenes, dramatisches Eigenleben. Die Trauer über das Verlorene sitzt also noch ziemlich tief.
Kein Wunder, dass Káryyn, die zuvor sogar Unterricht von der berühmten Komponistin und Akkordeonistin Pauline Oliveros erhielt, nach ihrem letzten Besuch in Aleppo erstmal nichts mit Musik zu tun haben wollte. Noch im selben Jahr zog sie sich nach Cherry Valley im Hinterland von New York zurück. Dort vertiefte sie sich in Philosophie und Neuroplastizität.
Zur Musik fand sie jedoch 2012 wieder zurück, als sie auf dem in Los Angeles ansässigen Produzenten Steve Nalepa traf. Der ermutige sie dazu, binäre Codes in ihre Melodien einzubetten. Demzufolge verfolgt sie beim Komponieren einen computerbasierten Ansatz.
Bestes Beispiel: "Binary". Dort nimmt man gedoppelte elektronische Geräusche wahr, wobei der Hintergrundgesang der US-Amerikanerin sogar gänzlich ohne Buchstaben und Worte auskommt. Die Maschine, sie bekommt eine Seele. Unterschiede lösen sich auf. Darum geht es Káryyn, die es zwischenzeitlich nach Berlin verschlug und die mittlerweile in Los Angeles lebt, wo sie ein Teil ihrer Kindheit und Jugend verbrachte.
So dokumentiert "The Quanta Series", das beinahe wie ein religiöses klassisches Werk im elektronischen Gewand anmutet, ihren langen Selbstfindungsprozess in Zeiten des unaufhaltsamen technologischen Fortschritts und der digitalen Anonymität. Der auch ungeahnte Selbstheilungskräfte bei ihr freigesetzt haben muss.
So kündet ihre beschwörende Klarstimme und der geistliche Chorgesang im Background in "Mirror Me" von Veränderung. Die findet für sie im Inneren statt. "Wir können handeln, so wie wir empfinden", sagte sie kürzlich in einem Interview für den Deutschlandfunk. Alles, was wir tun, hat demnach einen Sinn. Somit bleibt letzten Endes die Hoffnung auf ein gleichberechtigtes Miteinander aller Geschlechter, Kulturen und Weltanschauungen. Die Brücke zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft schlägt dieses Album.
1 Kommentar
Klingt interessant, fehlen nur noch ein paar Mosenu Ad-Libs zur progressiven Perfektion.