laut.de-Biographie
Melvins
Dass die Melvins oft in einem Atemzug mit dem Seattle-Sound genannt werden, liegt nur daran, dass sie in Aberdeen, Washington zusammenfinden. Dies ist dieselbe Stadt im näheren Umkreis von Seattle, aus der auch Nirvana stammen. Mit dem herkömmlichen Grunge à la Soundgarden oder Pearl Jam haben die Jungs jedoch so viel gemeinsam wie eine Wasserflasche mit einem reißenden Bergbach.
Mitte der 80er Jahre, als noch keiner das Wort Grunge überhaupt gehört hat, bekommt Buzz Osborne alias King Buzzo zum ersten Mal eine Gitarre in die Finger. Gemeinsam mit seinen Kumpels von der Montesano High School, dem späteren Mudhoney-Bassisten Matt Lukin und Drummer Mike Dillard hob er etwas Spezielles aus der Taufe: Eine Band, die damals noch am besten in die Schublade Post-Punk passt, sich im Laufe der Jahre jedoch jeglichen Kategorisierungsversuchen widersetzt. Die erste, selbst organisierte Tour endet im Jahre 1986 in einem Desaster, nachdem Skinheads die Band von Küste zu Küste verfolgen und nach dem Leben des Trios trachten. Dieselben Skinheads hatten fünf Jahre später lange Haare und trugen Sub Pop-T-Shirts. Eine total entmutigte Band nimmt daraufhin im Herbst 1986 ihr erstes Album auf - die deprimierte Stimmung gewissermaßen auf Tonband.
Mike Dillard war der mathematisch komplexen Struktur der melvinschen Rhythmen bald nicht mehr gewachsen, ihn bersetzt Dale Crover, Drummer einer Iron Maiden-Coverband. Der übergibt auch mal gerne die Drumsticks an einen glücklichen Fan aus dem Publikum, um neben Buzz mit der Gitarre einzuheizen. Der Part des Bassisten wird in der Folge des Öfteren neu besetzt. So spielen zwischenzeitlich Lori "Lorax" Black (die Tochter von Shirley Temple), Joe Preston und Mark Deutrom das Instrument, an dem sich später Kevin Rutmanis die Finger wundzupft. An der Gitarre steht seit Anbeginn Buzz, der mit seiner wirren Frisur im Stile eines Robert Smith oder eines Tingeltangel-Bob den würdigen Titel 'Kopf der Band' trägt.
Als Anfang der 90er Jahre jeder Fliegenschiss aus Seattle auf dem kommerziellen Altar des Grunge geopfert wird, gelingt auch den Melvins der Durchbruch: ein Majordeal bei Atlantic Records. Kurt Cobain, der zu Anfangszeiten als Tour-Roadie bei den Melvins dient, fädelt den Deal ein, nachdem Nirvana mit "Nevermind" weltweit Zillionen Platten verkaufen. Dale spielt nebenbei noch Drums bei Nirvana und ist bei einigen Songs auf "Incesticide" und "Bleach" zu hören. Im Gegenzug spielt Cobain auf "Houdini" mit den Melvins.
Die Melvins halten sich jedoch immer in weiter Ferne des Grunge-Trubels und bleiben ihren selbsterklärten Linien treu. Auch musikalisch stehen sie eher im Abseits, obwohl die drei bei Atlantic veröffentlichten Alben ("Houdini", "Stoner Witch" und "Stag") vergleichsweise hörbarer daherkommen, als der übrige Melvins-Output. Das Trio liebt nun mal One-Track-Scheiben aus einem Guss mit 50 Minuten Spielzeit, die vornehmlich einem Sturm aus Getöse und Geschepper entwachsen. Gleichzeitig offenbaren sie ein ausgefeiltes Gespür für fein geschnittene Riffs, die in komplizierte Noise-Konstruktionen münden können, oftmals aber auch mit eingängigen Melodien und humorvollen Ideen verknüpft sind und in Sachen Komplexität und Vielschichtigkeit ihresgleichen suchen. Wer die Melvins schon mal live erlebt hat, zeigt sich entweder enttäuscht, ziemlich verwirrt oder einfach hingerissen von der subtilen Ästhetik des Krachs.
Der Majordeal mit Atlantic war letztlich der Grund, der es ihnen ermöglicht, mit Bands wie NIN, Primus, Tool, White Zombie und ihren Lieblingen von Kiss zu touren. Nach dem Ende der Seattle-Bewegung gelten sie unberechtigt neben Pearl Jam als eine der wenigen Überlebenden dieses 'Ausverkaufs des Rock'.
Als die Melvins bei Atlantic rausfliegen, nimmt die Band Ende der 90er Faith No More-Sänger Mike Patton für sein neu gegründetes Label Ipecac unter Vertrag. Dort erscheint die sagenhafte und zugleich unverständliche Trilogie "The Maggot", "The Bootlicker" und "The Crybaby", die neben Patton, Beck und Tool auch verklärte Country-Balladen mit Hank Williams III (dem Urenkel der Country-Legende) enthält. Die Zusammenarbeit mit Patton gerät für Buzz Osborne zur neuen Herausforderung, da ihn dieser sogleich für sein neues Sideprojekt Fantomas an der Gitarre verpflichtet.
16 Jahre nach dem Debüt "10 Songs" erscheint 2003 mit "26 Songs" ein auf sechzehn Songs aufgestockter Melvins-Re-Release mit neuem Cover. Ein Muss für jeden Fan. Die Connection Osborne-Patton funktioniert auch ein Jahr später noch bestens. Auf Pattons Ipecac-Label erscheint die noisige Kooperation "Pigs Of The Roman Empire" von den Melvins mit Lustmord. Und wo sie gerade am Kollaborieren sind: Im selben Jahr erscheint mit "Never Breathe What You Can't See" ein Album, auf dem der unerreichte Jello Biafra endlich wieder das Maul aufreißt. Mit dem Ex-Dead Kennedys-Fronter setzt ein alter Polit-Löwe zum gewaltigen Sprung an, der auch auf dem Melvins-Soundteppich Amerika-kritische Töne fabriziert. Im Frühsommer 2005 schafft es die (Alp-)Traum-Kollabo sogar zu Live-Auftritten nach Deutschland.
Der öffentliche Jubel ist dementsprechend groß und verleiht der Band die Energie, im heimischen Proberaum gleich weiter zu rocken. Bereits Ende 2005 erscheint mit "Sieg Howdy!" eine Art EP-Fortsetzung des letztjährigen Albums, worauf neben fünf neuen Songs vier bereits bekannte in Remixversionen enthalten sind. Außerdem schaffte es eine Liveversion des Dead Kennedys-Knallers "Kalifornia Über Alles" (live in Seattle 2004) auf die Platte, die alleine schon die Anschaffung rechtfertigt. Mit neuem Text versehen, geht es in erster Linie Kaliforniens Gouverneur Arnold Schwarzenegger an den Kragen. 2006 ersetzt Jared Warren, Rutmanis am Bass, mit Coady Willis stößt gar ein zweiter Drummer hinzu (bis 2016). Viele weitere Tour- und Studiomusiker kreuzen im Laufe der Jahre den Weg der Melvins. Mit Basser Trevor Dunn (Mr. Bungle, Tomahawk) etwa spielen Buzz und Dale 2012 eine US-Tour als Melvins Lite und veröffentlichen auch eine Platte ("Freak Puke").
Auch in den Folgejahren bleibt der Melvins-Output quantitativ wie qualitativ auf erstaunlich hohem Niveau. Gleichgültig, ob weitere Kollabos - etwa eine Split-EP mit Isis - oder auf regelmäßig erscheinenden Bandalben: Die Melvins, seit 2016 steht Steven McDonald offiziell am Bass, weisen ausschließlich Hochkaräter vor. Ein besonderes Album, sogar unter all den Killerplatten, ist ihr im Sommer 2017 erscheinendes "A Walk With Love And Death". Neben dem gewohnt feinen Sludge und Stoner-Doom verarbeiten sie Klangcollagen, die eigentlich für einen Melvins-Kurzfilm gedacht waren. Da sich die Realisierung des Streifens jedoch vorerst zerschlägt, setzen sie die Musik kurzerhand in Zusammenhang mit ihrem Gemisch aus Space-Trip und Weltuntergangsmusik.
Die hohe Schlagzahl in Sachen Albenveröffentlichungen behalten Buzz und Co. eisern bei. Nach "Pinkus Abortion Technician" (2018) erscheinen allein 2021 zwei Studioalben. Im Sommer 2022 folgt die offiziell 26. Studioplatte namens "Bad Moon Rising", im Zuge derer sie 2023 auch im deutschsprachigen Raum touren.
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