laut.de-Kritik
Die Punkrock-Kids im Holzfäller-Dress hörten heimlich die Beatles.
Review von Thomas KlausAls Kurt Cobain, Krist Novoselic und Ur-Drummer Chad Channing vor über 20 (in Worten: zwanzig!) Jahren am 24. Dezember 1988 Jack Endinos Reciprocal Recording-Studio in Seattle betreten, ihre abgehalfterten Instrumente einstöpseln und eines der vielversprechendsten Debütalben der Rockgeschichte einspielen, erlebe ich gerade mal meinen neunten Winter.
Während ich also musikalisch noch völlig unbeschlagen den glitschigsten 80er Schmonzetten meiner großen Schwester auf den Leim gehe, legt das ungewaschene Trio in dem ehemaligen Tante Emma-Laden mit den Ausmaßen einer großzügigeren Hundehütte exakt 606 Dollar und 17 Cent auf den Tisch (geliehen von Jason Everman, der im Gegenzug als "Gitarrist" in den Credits aufgeführt wird), um innerhalb von vier Tagen den eigenen Fond jener Ursuppe aus 60er Pop, 70er Hardrock und 80er Metal aufzukochen, die kurze Zeit später als Grunge-Welle aus dem Nordwesten der USA herüberschwappt.
Sicher – "Bleach" war streng genommen ein Spätentwickler. Der Erstling zündete erst so richtig, als der Flächenbrand allmählich abebbte, den Nirvana 1991 mit "Nevermind" gelegt hatten - jenem Album, das den musikalischen Horizont einer ganzen langhaarigen Generation sprengte. Einige aufgeweckte Szenekenner wie Bruce Pavitt und Jonathan Poneman vom aufstrebenden Sup Pop Label witterten jedoch früh das Potential, das diesem rohen Klang-Klumpen innewohnte.
Die junge, ambitionierte Band aus Aberdeen, Washington wagte es doch tatsächlich, das Erbe der sakrosankten Melvins zu verunreinigen, indem sie deren zentnerschwere, zähe Magma aus Sludge, Doom und Hardrock mit einer unerhörten Prise Pop anreicherte. "About A Girl" oder das Shocking Blue-Cover "Love Buzz" zumindest offenbaren frank und frei, dass diese Punkrock-Kids im Holzfäller-Dress zuhause im Trailerpark heimlich die Beatles hörten.
Auch wenn "Bleach" mit Abstand betrachtet vergleichsweise holprig und stilistisch zerfahren wirkt - Nirvanas Gespür für leidenschaftliche, kraftvolle Songs von entwaffnender Ehrlichkeit und Simplizität blitzt hier bereits unverkennbar auf. Doch anhand von "Floyd The Barber", "Paper Cuts" und "Downer" (mit Dale Crover an den den Drums) lässt sich im Verglich zu den übrigen Tracks gut nachvollziehen, welches letzte Puzzleteil der Band noch fehlte: Drive, Dynamik und Durchschlagskraft. Dann kam Dave Grohl und der Rest ist Geschichte.
Diese wird natürlich prompt zum Jubeljahr ("Bleach" erschien im Juni 1989) und inmitten des Re-Release-Fiebers aufgewärmt: Der Erstling kommt in remasterter "Deluxe Edition" mit 48-seitigem Booklet als Expanded-CD und 180 Gramm schwere Doppel-LP inklusive Livegig aus dem Pine Street Theatre, Portland vom 2. Februar 1990 zurück in die Regale.
Kurios: In direkter Gegenüberstellung wirken die Studio- neben den Live-Versionen der Songs geradezu blutleer. Auf dem konservierten Gig klingen Kurt, Krist und Chad ein Jahr später um Längen eingespielter, lebendiger und tighter.
Da die ursprüngliche Aufnahme extrem höhenlastig ausfiel, ruhten alle Hoffnungen bezüglich eines potentiellen Mehrwerts dieser Neuauflage in der promowirksam angepriesenen Klang-Restauration – zumal Jack Endino höchst persönlich Hand anlegte. "Wir waren alle krank und besorgten uns codeinhaltigen Hustensaft. Wir tranken Unmengen davon und waren beim Abmischen total auf Codein", entschuldigte Bassist Novoselic in Michael Azerrads Nirvana-Biografie "Come As You Are" die recht unkonventionelle Soundpräferenz.
Doch entweder schwört Endino noch immer auf gespritzten Hustensaft oder er hat mit der ursprünglichen Version tatsächlich seinen Frieden geschlossen: Am Klangbild hat sich jedenfalls auch 20 Jahre später so gut wie nichts geändert. Selbst wenn die zahlreichen Abbildungen im Booklet das Paket aufwerten sollten, ist diese Zweitanschaffung tatsächlich nur Hardcore-Fans ans Herz zu legen.
66 Kommentare
Herrliches Album, wers noch nicht hat: Pflichtkauf.
Finde das Album etwas überschätzt. Bis auf Titel wie "About a girl" natürlich.
Hätte sich, wenn der spätere Erfolg nicht gekommen wäre sicherlich kaum verkauft.
Das Album ist grandios, aber halt eigentlich nicht massenmarkttauglich. Das wurde auch damals schon in der "Szene" gefeiert BEVOR Nevermind rauskam.
Das beste? Ich finde es roh und pur und deswegen so geil, Nevermind würde ich als das beste bezeichnen.
Wo steckt eigentlich dieser gustavgans?
Ich finde Bleach ist das beste Album von Nirvana und die Deluxe Edition ist auch gut.
24. Dezember 1988:
Und InNo, wann hast Du dieses Album das erste mal wahrgenommen? Vor oder nach "Nevermind"?