laut.de-Kritik
Das verschollene Bindeglied zwischen "Harvest" und "Comes A Time".
Review von Dominik KautzZwischen Juni 1974 und Januar 1975 absolviert Neil Young einige zeitlich voneinander abgegrenzte Studioaufenthalte, um unter der Regie von Hauptproduzent Elliot Mazer mit "Homegrown" das Nachfolgealbum zu "On The Beach" einzuspielen. Ein Teil der Aufnahmen findet in den Quadrofonic Studios in Nashville statt – an genau jenem Ort, an dem Young zwei Jahre zuvor seinen großartigen Klassiker "Harvest" auf Tonband konserviert. Doch dann entscheidet sich Young gegen die Veröffentlichung von "Homegrown". Die Aufnahmen verschwinden daraufhin jahrzehntelang in den Tiefen seines Archives. Unter den Fans entsteht in der Folge ein regelrecht mystischer Kult um das sagenumwobene 'verlorene' Album.
Dass die Platte damals nicht auf den Markt kommt, liegt wohl nicht unwesentlich am befreundeten The Band-Basser Rick Danko. Der Legende nach rät er Young, das direktere und rockigere "Tonight's The Night" dem stark introspektiven "Homegrown" vorzuziehen. Young selbst scheint die Sachlage sehr ähnlich zu sehen und begründet den Rückzug von "Homegrown" offiziell damit, dass ihm die sehr "persönliche und offene" Grundstimmung des Albums insgesamt zu depressiv sei. Wenig verwunderlich in diesem Fall. Viele der Songs handeln von der kurz vor Aufnahmestart in die Brüche gegangenen Beziehung zur Schauspielerin Carrie Snodgress (1945-2004), mit der er einen gemeinsamen Sohn hat.
Zu den auf "Homegrown" mitwirkenden Musikern zählen vor allem die The Band-Mitglieder Stan Szelest (Piano), Levon Helm (Drums) und Robbie Robertson (Gitarre). Zusätzlich beteiligen sich die bereits auf "Harvest" vertretenen Ben Keith (Pedal-Steel-Gitarre) und Tim Drummond (Bass) sowie der spätere International Harvester-Schlagzeuger Karl T. Himmel. Aus heutiger Sicht um so mehr ein Grund zur Freude, dass der Altmeister den rauen, sehr intimen Blick in sein Seelenleben 45 Jahre nach Fertigstellung der Aufnahmen ungeschönt freigibt.
Schon der sehr ruhige, akustisch gespielte Opener "Seperate Ways" zeugt eindeutig von Youngs innerer Zerrissenheit nach der Trennung mit Snodgress. "I won't apologize / the light shone from in your eyes / it isn't gone / and it will soon come back again / we go our seperate ways / lookin' for better days / sharing our little boy / who grew from the joy back then" reflektiert er mit zerbrechlicher wirkender Stimmführung über sparsamen, überaus kargen Mollakkorden. Helms sehr minimalistisches Schlagzeug und Keiths wehklagend trostlose Pedal-Steel-Gitarre unterstützen die desolate Melancholie des Tracks hervorragend. Da passt es nur ins Bild, dass Produzent Mazer Sekundenbruchteile zu spät den Aufnahmeknopf betätigt und der Song erst inmitten des Anfangsakkordes beginnt.
Deutlich lebensfroher geht Young im starken, vom Folk Rock à la "Harvest" geprägten "Try" zu Werke. "Darlin', the door is open / to my heart, and I've been hopin' / that you won't be the one / to struggle with the key" spricht er Snodgress direkt und optimistisch an. Der "wunderschöne", harmonisierende Backgroundgesang stammt von Folk- und Countrysängerin Emmylou Harris.
Neben den Performances mit Band, tritt Young auf "Homegrown" auch als Solokünstler in Erscheinung. In "Mexico", einem aus Piano und eindringlich klagendem Gesang bestehenden Stück, trauert er mit den Worten "Ooh, the feelin's gone / why is it so hard to hang on / to your love" erneut der Mutter seines ersten Kindes nach. "Kansas", die zweite und letzte seiner beiden fragmentarischen Soloperformances der Platte, handelt dagegen vom Aufwachen neben einer unbekannten Person. "Although I'm not so sure if I even know your name / hold on, baby, hold on", singt Young, begleitet von der Akustikgitarre. Die dazu erklingende Mundharmonika weckt Erinnerungen an den "Ambulance Blues" von "On The Beach".
Zwar spielt Neil Young die bisherigen Stücke gelegentlich live. Auf Platte erschienen sie bis jetzt allerdings nie. Gegensätzlich dazu finden sich auf "Homegrown" jedoch auch Songs, die Young im Laufe der Zeit auf eine Reihe anderer Platten packt. "Love Is A Rose" erscheint ursprünglich 1971 unter dem Namen "Dance, Dance, Dance" als Teil des selbstbetitelten Debütalbums von Youngs Backing-Band Crazy Horse. Dadurch, dass Young den Fiddle-Part des Originals in "Love Is A Rose" durch seine Mundharmonika ersetzt und der Track allgemein deutlich getragener als das Original klingt, knüpft er hier erneut direkt an den Sound von "Harvest" an.
Beim Titeltrack "Homegrown" handelt es sich, wie der Name schon verspricht, um eine rockige, an den Sound von "Tonight's The Night" erinnernde Hommage an das von Young so geliebte und mit Vorliebe gerauchte Marihuana. "Homegrown is the way it should be / homegrown is a good thing / plant that bell and let it ring" heißt es augenzwinkernd im Text. Der Track erscheint 1977 in einer weniger folkigen und höher gespielten Version auf dem 1977 mit Crazy Horse eingespielten Album "American Stars 'N Bars".
Ebenfalls auf diesem Album befindet sich die Akustiknummer "Star Of Bethlehem", die im hiesigen Original aber deutlich organischer klingt. Young zeigt sich hier gnadenlos abrechnend. "All your dreams and your lovers won't protect you / they're only passing through you in the end / they'll leave you stripped of all that they can get to" faucht er. Erneut steuert Emmylou Harris den Backgroundgesang bei.
Die aus dem 1990er Crazy Horse-Album "Ragged Glory" bekannte, mit knarzenden Fuzz-Gitarren gespielte Version "White Line" erscheint auf "Homegrown" im auf das notwendigste reduzierte, bittersüßen Akustikgewand. Das ebenfalls unverstärkt gespielte und irgendwo zwischen "Harvest" und "Tonight's The Night" pendelnde "Little Wing" entspricht im Wesentlichen jener des 1980 erschienen Neil Young-Albums "Hawks & Doves".
Den absoluten Höhepunkt und für alle Fans wohl interessantesten Kern von "Homegrown" jedoch bilden drei Songs, die bis dato weder eine Veröffentlichung erfuhren, noch ihren Platz in eine Liveperformance fanden. Im sehr ungewöhnlichen, etwas eigenartigen Spoken Words-Stück "Florida" erzählen Young und Keith eine abgedrehte Geschichte um ein Segelflugzeug, das im Florida der 1950er Jahre mitten im Zentrum einer Stadt in ein fünfzehnstöckiges Gebäude kracht. Die musikalische Begleitung besteht hier lediglich aus dem quietschenden, avantgardistisch wirkenden Sound eines mit nassen Fingern gestrichenen Weinglases.
"We Don't Smoke It No More" kommt als straighter Blues und könnte in dieser Form ebenfalls hervorragend auf "Tonight's The Night" stattfinden. "Vacancy", die letzte der bisher ungehörten Nummern, entpuppt sich als lupenreiner und stampfender Rocker in bester Neil Young-Manier. Hier zeigt er sich zum Ende so richtig mürrisch und zänkisch. "I look into your eyes and I don't know what's there / you poison me with that long vacant stare" knurrt er in unbekannte Richtung ein letztes Mal ins Mikro.
Zur späten Veröffentlichung äußert sich der Meister selbst wie folgt: "Ich bitte um Entschuldigung. Das Album 'Homegrown' hätte bereits einige Jahre nach 'Harvest' für euch da sein sollen. Es ist die traurige Seite einer Liebesbeziehung. Der angerichtete Schaden. Der Liebeskummer. Ich konnte es mir einfach nicht anhören. Ich wollte es hinter mir lassen. Also behielt ich es für mich, tief in den Kellergewölben, im obersten Regalfach, im Hinterstübchen meines Kopfes... aber ich hätte es teilen sollen. [...] Das Leben schmerzt manchmal. Ihr wisst, was ich meine. Dies ist das eine, das entkam."
Mit dem dunklen, sehr eindringlichen und zu weiten Teilen akustischen "Homegrown" veröffentlicht Neil Young nach fast einem halben Jahrhundert endlich das fehlende, zur Legende gewachsene Bindeglied zwischen dem vor Schönklang strotzenden "Harvest" und dem leichtfüßigen Country-Folk von "Comes A Time". Wenn man so will, erweitert er damit nachträglich die in seiner dunklen Phase zwischen 1973 und 1975 veröffentlichten Alben der sogenannten "Ditch Trilogy" zur "Ditch Quadrilogy". Analog aufgenommen und von den originalen Mastertapes gemastert, liefert Young mit diesem Album eine großartige Erweiterung seines frühen Werkes. Well done!
2 Kommentare
naja
Mich kann Neil Young noch immer überraschen und mitreißen. Obwohl er schon einige Archiv-Alben herausgebracht hat, ist dies sicher eines seiner besten Veröffentlichungen aus dem Archiv.
Nach mehrmaligem Durchhören kann es durchaus mit den anderen Alben aus den 70ern mithalten.
Ich bin gespannt ob dieses Jahr tatsächlich "Archives Vol. 2" veröffentlicht wird, auf dem noch viel mehr Material aus den Siebzigern dabei sein soll, wie auch Outtakes von "Homegrown".