Der Tocotronic-Sänger führt Tagebuch über ein Jahr zwischen Isolation und Hoffnung. Aus der Sicht eines großen Kindes entdeckt er in seiner Umwelt fantastische Motive und gibt seltene Einblicke in sein Privatleben.

Berlin (rnk) - "Ich will von diesem traurigen Jahr erzählen, als wäre es die schönste Zeit meines Lebens gewesen", schreibt Tocotronic-Sänger Dirk von Lowtzow auf der letzten Seite seines Tagebuchs. Es ist der 21. März 2021, sein fünfzigster Geburtstag. Was nun vor ihm liegt, bliebt im Dunkeln, aber dank seiner romanartigen Tagebuch-Einträge lässt er uns etwas an seinem Seelenleben teilhaben.

Vielleicht aber auch nicht: Das autofiktionale "Aus dem Dachsbau" vermischte auch schon real Erlebtes mit absurden Details und Geheimnisvollem. Von Lowtzow blieb bisher ziemlich verschlossen, sein Privatleben irgendwo im Ungefähren. Social Media-Accounts führt er offiziell jedenfalls nicht, auch das letzte Interview sollte lieber per Telefon und nicht Videocall erfolgen. "Ich tauche ab" wäre eigentlich der bessere Buchtitel gewesen, ginge es um die bisherige Wahrnehmung des Autors.

Doch mit seinem zweiten Buch, wieder bei Kiepenheuer & Witsch erschienen und kompakte 213 Seiten lang, bekommt der Leser einen tieferen Einblick in die Welt des mystischen Dirk. Also, wahrscheinlich, denn die Tagebücher vermischen wie in "Aus dem Dachsbau" Romanform und Alltagsbeobachtungen. Es gibt eine Partnerin, die Dirk mit "J." anonymisiert und die schon seit zwanzig Jahren mit ihm gemeinsam durchs Leben geht. Es benötigt nicht furchtbar viel Recherche oder nur einen Blick in das letzte Buch, um die reale Person hinter dem Kürzel zu erkennen.

Die Liebe und Dankbarkeit füreinander beschreibt von Lowtzow tatsächlich nie schwülstig, aber immer von tiefer Bewunderung und Dankbarkeit getragen. J., die Seelenpartnerin, die wie er immer noch kindliche Freude über ganz alltägliche Dinge entwickelt und gerade sensiblen Menschen, wie zum Beispiel Anja Franziska Plaschg (Soap & Skin), mit ihrer Warmherzigkeit ein Zuhause gibt. Unterschiede bleiben trotz so viel Harmonie natürlich nicht aus. Vor allem das mitunter negative Gemüt von Dirk bringt J. immer wieder auf die Palme. Aha, möchte der Fan früherer Alben rufen. Doch noch etwas graues Seattle, auf dessen Ruinen nun Erdbeerfelder blühen.

Dirkules im Wald

Doch "Ich tauche auf" trägt viel mehr von den Alben seit von Lowtzows Ankunft in Berlin in sich, diese Flucht ins Romantische, Fantastische, Versponnene und Absurde. Der "Alles was ich will, ist nichts mit euch zu tun haben"-Sänger taucht nur selten auf, und wenn, dann an Orten, an denen man ihn nicht vermutet. Als er in einem Bioladen für 13 Euro Blattspinat kauft und eine Diskussion über den horrenden Preis an Berliner Patzigkeit scheitert, beschließt er, diesen Zwist mit einem "Ihr werdet alle sterben" zu beenden. Oha.

Ansonsten bleibt alles überwiegend freundlich und harmoniebedürftig. Märchenhafte Motive wie aus der Kindheit verwandeln die Orte. Der Hellsee in der brandenburgischen Provinz wird so zu einem surrealen Ort, an dem Froschkönig, Undine und eine enttäuschte Wassernixe eine unheilvolle Allianz schmieden. Gebruder Grimm, sozusagen. Sorry für den miesen Wortwitz, aber Dirk stimmt auf dem Weg zum besagten Märchensee auch "Highway to Hell" an, also: unentschieden.

Nicht nur im verwunschenen Wald gibt es allerhand Merkwürdiges zu erkunden. Technische Kälte, zum Beispiel. Saugroboter mutieren zu kleinen Ufos, denen Männchen entsteigen. Schön, wenn jemand noch so viel kindliche Kreativität in sich trägt. Es gestaltet viele Dinge erträglicher. Aus Entzugserscheinungen und Panikattacken werden weniger furchteinflößende Kobolde und Dämonen.

Den körperlichen Zerfall in der Lebensmitte mag auch die Negierung der Wirklichkeit nicht aufhalten. Auch ein Dirk von L. muss zum Osteopathen oder zu Vorsorgeuntersuchungen. Genau wie wir, im letzten Sommer, als wir im Hamburger Stadtpark noch einmal die ganzen Erinnerungen zurückholten, aber graue bis gar keine Haare und Bauchansatz unsere wahrhaftige Biologie, nicht das gefühlte Alter, schmerzhaft offenlegten. Was bleibt uns denn noch von der früheren Welt, außer Michael Ende und Hörspielen nach der Steuererklärung?

Literatur spielt eine große Rolle in Dirks Leben und auf den Toco-Alben. Von Lowtzow gibt freimütig zu, dass William Blakes "Proverbs of Hell" großen Einfluss auf "Pure Vernunft Darf Niemals Siegen" hatte, desweiteren begeistert er sich für Olga Tokarzurks "Gesang der Fledermäuse". laut Verlag "ein philosophischer Kriminalroman, der skurrilen Humor mit scharfer Zivilisationskritik verbindet"." Ein Buch, wie für einen Toco geschrieben.

Das Bild von einem kunstbeflissenen Ästheten und Intellektuellen bestätigen auch weitere Kurzeinträge. Immerhin gut zu wissen: Für Menschen auf gleicher Wellenlänge öffnet Dirk das digitale Fenster, damals vor einem Jahr für die Musikjournalisten lieber nicht. "Durch Zoom-Gespräche erhält man Einblicke in das Leben anderer Menschen, die einem verbieten, die eigene Illusion aufrechtzuerhalten", schreibt er über einen unfreiwilligen Zoom-Call. Keine Ahnung, was es da für Illusionen über die andere Seite gab, aber eine Welt voll Geheimnisse und Verstecke scheint ihm wichtig.

The Dörkness vs. The Drögnis

Überraschend: Den lauten Testo-Action-Film "Mad Max Fury Road" findet Dirk klasse. Nicht so überraschend: seine Begeisterung für nischige Popkultur, Politik und Kunstgeschichte. Es wird nur mit zunehmender Lesedauer etwas repetitiv, die ständigen Namedrops und Referenzen zu hören, oder mit wem aus der Berliner Künstlerszene eine wunderbare Konversation erfolgte. Das sind, ehrlich gesagt, die Tocos, die mir als Teenager den Zugang zu ihnen manchmal etwas erschwerten. Eine - von mir natürlich auch herbeigeredete - Bubble, in der ich mich bis zum weißen Album nie so ganz heimisch fühlte und die mir damals sehr distinktionsgetrieben erschien.

"Sehnsucht nach unten", so wolle er einmal einen Roman titulieren. Das passt natürlich zur Vita der meisten Toco-Fans. Die Faszination der Privilegierten für die andere, gefährliche Welt weiter unten. Im Grunde genommen zu allen Menschen, die qua Elternhaus nie wirklich finanzielle Sorgen erlitten. Wir waren alle mehr Toco als South Central oder New Yorker Hardcore. Auch meine Freunde aus der Punk-/HC-Ecke waren viel mehr Dirk, als sie das jemals zugaben. Heute arbeiten sie beim Amt, und die große Sentimentalität vernebelt zunehmend ihre Gedanken.

Dirk ist da, fast im Gegensatz zu den Altersgenossen, mehr Punk als die angekommenen Alltagsarbeiter, die noch nicht einmal mehr selbst ihre sinnentleerten Berufe schönreden und "will noch mehr Geld" als Motivation angeben. Dann doch lieber den langsam ergrauten Fantasten Dirk von L., mit dem man sich jederzeit auf Fantasiereise durch Berlin und Umgebung begeben kann. Ästhetische Fiktionen, Träumereien und Illusionen, in einer zunehmenden Schwere des Alltags.

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