Sex, Drugs und Rock'n'Roll? Jawoll, in der Biografie der Frontfrau von Jennifer Rostock wird gevögelt und konsumiert, es geht aber nicht nur lustig zu.
Berlin (dani) - Wenn vergleichsweise junge Menschen ihre Lebensgeschichte aufschreiben, kommt das immer ein bisschen wichtigtuerisch rüber. Es klingt nach großmäuligem "Seht! Seht her und staunt, was ich alles erlebt habe!" Im vorliegenden Fall greift dieser Automatismus besonders gut: Jennifer Weist hat sich über Jahre hinweg öffentlich als das genaue Gegenteil einer dezenten, zurückhaltenden Person inszeniert. Die Attitüde, die sie spazierenträgt, lässt schlicht alles, das sie tut oder sagt, irgendwie marktschreierisch wirken.
Nun mag Großmäuligkeit nicht der allersympathischste Wesenszug sein. Wenn es eine*n ins Rampenlicht zieht, stört ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein aber auch nicht gerade. Dass Jennifer Weist es drauf hat, sich selbst in den Mittelpunkt zu stellen, hat sie jedenfalls bereits zur Genüge bewiesen, sowohl als Frontfrau von Jennifer Rostock als auch als Solokünstlerin Yaenniver. Jetzt schreibt sie also, mit 38, ihre Biografie, und natürlich heißt sie plakativ "Nackt" (Rowohlt Verlag, 384 Seiten, gebunden, 24 Euro). Na, so mein unmittelbarer Reflex, das wird schon irgendwie in eine Sex-Drugs-and-Rock'n'Roll-Orgie ausarten. Tut es auch: einerseits ganz genau so wie erwartet, andererseits aber auch ganz anders.
Ja, es wird gevögelt, bis die Schwarte kracht, und ja, auch konsumiert, bis die Leber wimmert. Allerdings geht es dabei keineswegs immer lustig zu. Im Gegenteil. Eine volle Seite mit Triggerwarnungen stellt Jennifer Weist ihrem Buch voran, und allein schon die Aufzählung der zu erwartenden Grausamkeiten macht überdeutlich: Ein Spaziergang zum Ponyhof steht eher nicht bevor. Nur fair also, eventuell vorbelasteten und entsprechend sensiblen Teilen der potenziellen Leser*innenschaft noch schnell die Möglichkeit zur Umkehr anzubieten. Wer dieses blinkende Warnschild jedoch unbeeindruckt passiert, steht schon mit beiden Füßen drin, in einem wahrhaftig stinkenden Sumpf.
Zu Anfang: ein Ende
Weist beginnt ihr Buch mit einem Ende: Sie lässt sich bei ihren Vorbereitungen auf das (vorerst) letzte Konzert von Jennifer Rostock über die Schulter schauen. Ein Lebensabschnitt geht zuende, und auch wenn das bedeutet, dass etwas Neues beginnt, trübt die Wehmut doch den Blick auf jedes kleine Detail. Viel spannender macht das die protokollarische Auflistung von Banalitäten ("'Ich zahle mit der App!', sage ich, gebe dem Fahrer fünf Sterne und steige aus dem Auto." "Baku legt seinen linken Fuß aufs rechte Knie und fängt an, darauf herumzutrommeln.") zwar nicht, aber irgendwie muss man ja anfangen.
Dem Prolog lässt Weist allerdings noch ein schwafeliges, selbstbeweihräucherndes Vorwort folgen: sehr viel Vorrede, um zum "Intro" zu gelangen, dem ersten der 13 Kapitel - die, wie wir gerade aufs Brot geschmiert bekommen, übrigens genau so heißen wie die 13 Tracks auf ihrem Soloalbum. Falls ihr nicht wusstet, wie das heißt, wisst ihr es jetzt: "'Nackt' ist offensiv, 'Nackt' provoziert, regt dadurch aber auch zum Nachdenken an. 'Nackt' tut manchmal richtig weh, 'Nackt' legt einen Finger in offene Wunden. 'Nackt' ist aber auch sanft und zeigt sich verletztlich. ' Nackt' ist mutig und vor allem ehrlich. 'Nackt' heißt Nackt, weil jeder Song auf diesem Album meine Wahrheit laut erklingen lässt. Weil ich bei der Konfrontation mit meinen Hörer*innen absolute Transparenz liefere und mich der Außenwelt ganz nackt - so zeige, wie ich eben bin. Mit all meinen Stärken, aber auch Herausforderungen." Leute! Euch ist der Promotext zum Album zwischen die Druckfahnen gerutscht, ist das niemandem aufgefallen?
Das Tagebuch einer 14-Jährigen
Ihr merkt schon: Es fällt mir sehr leicht, dieses Buch (es heißt übrigens "Nackt", falls jemand fragt) nicht zu mögen. Ihr werdet noch merken: Es fällt mir extrem schwer, es in den Dreck zu treten. Dabei hätten es weite Teile davon durchaus verdient: Jennifer Weist schreibt strunzlangweilig. Man sollte nicht glauben, dass sie ihr Geld (zumindest zum Teil) mit Texten verdient, so dürr und floskelhaft klingt ihre Prosa. Vielleicht liegt es daran, dass mir ihre chronologisch durchnummerierten Beziehungsgeschichten von "Philipp, dem Skateboarder", "Bene, dem Dauerbetrogenen" oder "Janosch, dem Fels in der Brandung" sämtlich komplett uninteressant erscheinen. "Nummer 5: Felix slidet in meine DMs", Jesses, als lese man das Tagebuch einer 14-Jährigen.
An anderen Stellen komme ich mir vor, als hätte ich mich in einen Volkshochschul-Vortrag verirrt, irgendetwas aus der Kategorie "Ernährungswissenschaft für Dummies", wo einem die schlanke, fitte Dozentin Dinge offenbart, die man nicht für möglich gehalten hätte: "Ich ernähre mich sehr gesund - ich koche jeden Tag frisch, ausgewogen und meist vegetarisch. Weil ich drei- bis viermal die Woche Kraftsport mache, esse ich proteinreich. Da mein Körper viel Fett nicht optimal verdaut, esse ich fettarm, genieße schwere Speisen nur in kleinen Mengen und verwende zum Kochen viele frische Kräuter, die das Essen für mich bekömmlicher machen. Weil Zucker, egal ob Industrie- oder Fruchtzucker, bei mir zu Hautunreinheiten führt, esse ich Süßes, also auch Früchte, nur in Maßen." Na, sowas.
Von Akupressurmatten und Gruppensex
Jennifer Weist erzählt von Yoga und Akupressurmatten, vom Immunschwäche und Darmgesundheit, von ihrem Schlafrhythmus und ihren Selfcare-Routinen, und auch wenn sie immer wieder beteuert, nicht predigen oder missionieren zu wollen, wirkt es doch irgendwie wie "17 Tipps für ein gesünderes Leben" aus dem Magazin der Krankenkasse (das nie jemand wirklich liest). In krassem Gegensatz dazu stehen die Passagen, in denen es um Alkohol oder Drogen geht. Denen, teils auch recht ausschweifend, zugesprochen zu haben, gibt Weist unumwunden zu. Die immer wieder eingestreuten Bemerkungen, dieses oder jenes sei nicht zur Nachahmung empfohlen, klingen jedoch unaufrichtig, wie aus Gründen des Jugendschutzes von irgendwem diktiert. Gerade wenn Weist seitenweise ihre Gruppensex-auf-MDMA-Erfahrungen ausbreitet, gerät sie derart ins Schwärmen, dass der Hinweis auf die Gefahren von Misch- und die Bitte um "verantwortungsbewussten Konsum" wie pflichtschuldig draufgeklebt wirkt.
Apropos: Über Sex zu schreiben, ohne dass es platt, peinlich, lächerlich oder allzu technisch klingt, fällt schon versierten Schriftsteller*innen schwer. Jennifer Weist ist aber offensichtlich keine versierte Schriftstellerin, weswegen die expliziten Passagen, in denen sie ihr Sexualleben ausbreitet, extramühsam zu lesen sind. Und, oh, es gibt viele davon: Jennifer Weist vögelt offenbar gerne, oft und ausschweifend. Angesichts ihrer Kindheitserlebnisse (wir kommen noch dazu): wahrhaftig keine Selbstverständlichkeit. Es sei ihr also von Herzen jedes Vergnügen gegönnt. Ich brauch' nur bitte trotzdem nicht so genau zu wissen, auf welchen Couchtisch sie sich lecken und in welchem Ibiza-Urlaub sie sich anpissen ließ.
Ausführlich beschreibt Weist außerdem, wie sie zur Polyamorie fand und "konsensuelle Nicht-Monogamie" als die für sie passende Beziehungsform entdeckte. Ja, jede*r, wie er*sie will und wie es sich richtig anfühlt. So lange die Arrangements für alle Beteiligten klargehen und niemand zu Schaden kommt: nur zu. Ich habe keinen Zweifel, dass Jennifer Weist das auch so sieht. Trotzdem wirken ihre Ausführungen darüber, warum sie liebt, wie sie liebt, und was das überhaupt für ein Modell ist, das sie da lebt, auf mich entweder unangenehm belehrend (wie das Kapitel, in dem sie "mit Vorurteilen aufräumt"), oder sie haben diesen komischen Unterton, als habe Weist das Gefühl, sich doch irgendwie rechtfertigen zu müssen: Nein, musst du nicht. Chill!
Ich glaube, das Hauptproblem an diesem Buch ist, dass Jennifer Weist zwar aufrichtig tut, wahrscheinlich sogar aufrichtig ist, sie auf mich - warum auch immer, ich kanns noch nicht einmal an irgendeinem konkreten Punkt festmachen - aber trotzdem absolut unauthentisch und künstlich wirkt. Das führt bei der Lektüre zu wirklich seltsamen Diskrepanzen: Ich nehme ihr zum Beispiel voll und ganz ab, dass sie Feministin ist, dass ihr die LGBTQ*-Community am Herzen liegt, dass sie gegen Diskriminierung jeglicher Form steht, dass sich aus voller Überzeugung gegen Rechts engagiert. Ich glaube ihr das alles, und ich feiere sie dafür, wie ich alle feiere, die sich in diesen Zeiten gerade machen. Aber: Es liest sich trotzdem wie Buzzwording aus dem Handbuch für korrektes Verhalten. Ganz seltsam.
Triggerwarnung: Kindesmissbrauch
Wie schon angedeutet, wäre es ein Leichtes, dieses Buch, wie ich es jetzt ja über mehrere Absätze hinweg praktiziert habe, zu verreißen. Dass ich trotzdem erhebliche Beißhemmungen habe, liegt an der schlimmen Geschichte aus ihrer Kindheit, die Jennifer Weist hier eben auch erzählt. Zwischen Rockstar-Posen, Gesundheits-Influencertum und Fahnenschwingen für die freie Liebe lässt sie fast beiläufig fallen, als kleines Mädchen von einem Bekannten der Mutter missbraucht worden zu sein. Sie schildert den Moment, in dem die bis dahin verdrängten Erinnerungen wieder hochkamen, und teilt dann auch besagte Erinnerungen, vor denen man am liebsten wirklich Augen und Ohren verschließen würde. Hier hat ein Kind Dinge erlitten, die kein Kind jemals erleiden müssen dürfte. Jennifer Weist ist eine verletzte Seele. Da tritt man nicht noch drauf.
Ihr Buch ist aber halt trotzdem nicht gut, und möglicherweise geht mir gerade in dieser Sekunde auf, woran es liegen könnte, das es mir größtenteils gar so formelhaft-schulbuchartig vorkommt: An einer Stelle schreibt Jennifer Weist: "Eine Therapie habe ich bis heute nicht gemacht." Auch das muss jede*r für sich selbst entscheiden. Eine persönlichere Angelegenheit gibt es ja kaum. Es käme mir echt übergriffig vor, jemanden, den*die ich gar nicht kenne, professionelle Behandlung zu empfehlen. Ich frag' mich bloß: Wenn ein vergewaltigtes Kind keine Therapie verdient hat, um das erlittene Trauma zu überstehen: wer dann? Sie stecke "mitten im Prozess der Verarbeitung", schreibt Weist. Ich wette, sie hat im Zuge dessen das eine oder andere Selbsthilfebuch gelesen. Vielleicht klingt ihr eigenes deswegen über weite Strecken auch so: dröge, wie ein Ratgeber. Schade eigentlich.
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8 Kommentare mit 3 Antworten
"wollte schon immer 400 seiten über die irrungen und wirrungen von egomanischen popsternchen lesen" - brigitte (45), eine treue fan*in
Wie heißt das Buch? Von wem?
Buch statt Buck in der Überschrift!
Vielen Dank für diesen sachdienlichen Hinweis!
Glaubte von sich irgendwie schon immer relevanter zu sein als sie es je war, aber viel Spaß beim Lesen.
Sie hat Musik, Substanzen und jede Menge Zeit für sich und doch ist sie nicht erwacht, tappt im Dunkeln und sucht die Antworten im außen. What the fuq. Vielleicht geht ja mal eines Tages ein Lichtlein auf, wenn sie ihren Körper als Tempel entdeckt für den Höchsten im Raum.
Leben und leben lassen, fairerweise.
...wat?
Liest sich irgendwie wie der Konsum von Influencer-Content, nur konzentriert auf Buchform. Neben dem biografischen Anteil und ein paar Kochtipps kriegt man sogar ein bisschen geschriebenen OnlyFans-Content in Form von beschriebenen Drogen-Orgien. Ist ja nicht so, als ob es nicht dem aktuellen Zeitgeist entspräche.