Der britische Musikjournalist lädt auf die dunkle Seite des Punk: Sex, Tod und Haarspray, Ahnenforschung, und am Ende kommt der Boomer durch.

Mainz (rnk) - Als der unfassbare dicke Wälzer "Goth" (Ventil Verlag, 624 Seiten, Taschenbuch, 32 Euro) auf meinem Schreibtisch lag, musste ich gerade anfangs doch etwas schmunzeln. Ja, genau: Ausgerechnet ich lese das, ein typischer "Mall-Goth", der sich Ende der 90er mal die Fingernägel mit Edding lackierte, Tim Burton-Filme kannte und The Cure auch ganz toll fand. Den Look fand ich immer großartig, und eigentlich waren die Goths in meinen Schulklassen Cousins und Cousinen. Leute, die wie ich Außenseiter waren und sich der schwarzen Klamotten wegen auch immer den unfassbar einfallsreichen Joke anhören mussten, ob gerade mal wieder jemand in der Familie gestorben sei.

Die Goths jedoch fanden meine Anbiederungsversuche eher peinlich. Bei der Aufforderung "Dann nenn' mir doch mal deine Lieblingsbands" kam bei mir nur Gestotter und ein aktuell angesagtes Album heraus. Irgendwann erbarmte sich eine Mitschülerin aber doch und nahm mich ins Eisenlager mit: In eine Disco in Oberhausen voller netter Menschen, die mich trotzdem alle amüsiert bis mitleidig anschauten. Ich hatte ein schwarzes Poloshirt und Schlaghosen an, und man konnte sofort erkennen, dass ich hier eher nicht dazu gehöre. Was mich nicht davon abhielt, die Leute wie ein großes Kind anzustarren. Da war "Tanz-Barbie", die zu harten EBM-Sounds gefährlich aussehende Karate-Moves machte, aber auch diese Frau im Rokoko-Kleid, die im Stroboskop anmutig vor mir zu "Du riechst so gut" von Rammstein einen Rocktanz vollführte.

Ja, vielleicht wäre ich ja doch Goth geworden, wenn an dem Abend nicht lauter für mich unhörbare Musik gelaufen wäre. Sachen wie SITD versauten mir mit Texten wie "Heute Nacht wurden zwei Leichen eingeliefert" wieder total das Interesse. Ein Buch wie "Goth" hätte mir gut getan, aber das gab es ja noch nicht, und so blieben die alten Klischeevorstellungen noch sehr lange in meinem Kopf.

Sex, Tod und Haarspray

Das erste Kapitel beginnt, wie passend, direkt mit einer wunderbaren Szene-Beschreibung in den späten Siebzigern. Punk wirbelt gerade England durcheinander und in seinem Schatten (äh ...) entwickelt sich bereits eine weitere Subkultur. Eine laute Mischung aus Menschen in schwarzen Klamotten in bereits gender-fluider Atmosphäre. "Jungs machten sich die Haare auf den Frauentoiletten, die Mädchen gingen auf die Jungstoiletten, um die Schlange zu umgehen." Ein giftiger Geruch von Haarspray und Färbemitteln liegt in der Luft, im Nebel unterhält sich das Alternative Disco-Volk über Post-Punk-Themen und Okkultes. Egal, wie man zu der Musikrichtung steht, aber John Robb zieht einen mit seinen ausführlichen und trockenhumorigen Anekdoten sofort in seine düstere Welt.

Beim Anblick der dicken Schwarte könnte einen drögen Lexikon-Stil erwarten. Tatsächlich verfolgt man mit großen Interesse die spannenden Erzählungen des Autors. Er lässt eine Ära, noch weit vor entsetzlichen Auswüchsen wie Eisblume oder Unheilig, wieder auferstehen. "Der Look war wichtig", schreibt Robb und beschreibt den androgynen Goth-Stil mit den beiden Themenschwerpunkten "Sex und Tod".

Eine Szene, die wie alle Szenen bloß kein Etikett aufgedrückt bekommen möchte, wählt bereits früh den Weg zu einer Ästhetik, die sich aus der Schauerliteratur des 19. Jahrhunderts, S/M-Mode, B-Movies und auch etwas Kitsch bedient. Während die Frauen selbstbewusst ihr Korsett tragen, wählen die Männer androgyne Kleidung, die Geschlechtergrenzen aufhebt. Die Musik im Club ist ebenfalls ein Patchwork aus vielen Stilen. Die Tanzbarkeit von Disco, das Pathetische des Glam-Rock und auch Afrobeat bilden die Mischung, aus der Sisters Of Mercy und der mittlerweile schon poppige Adam Ant ihr Amalgan formen.

Von der Gotik zum Goth

Bevor John Robb die History der Goth-Music weitererzählt, gibt es eine ausführliche, über zehn Kapitel lange Exkursion zum eigentlichen Ursprung des Namens: Gotik wurde im Mittelalter als Verunglimpfung verwendet. Wir erfahren, wie der Fin De Siecle, die melancholische Grundstimmung der Romantiker und natürlich die Schauerliteratur des 19. Jahrhunderts enormen Einfluss auf die Goth-Ästhetik übten. Diese ausführliche Einleitung ins Thema mag Kenner der Materie langweilen, für den neutralen Leser erzeugen sie aber eine neue oder erweiterte Perspektive. Diese Detail-Arbeit, das wirkliche Eintauchen, unterscheidet solche Bücher von lieblosen Reportagen über die "dunkle Szene".

Die musikalischen Prototypen des Goth wie Cash, The Doors oder The Stooges werden in Robbs Ahnenforschung im Kapitel "All The Children Are Insane Or People Are Strange”ausführlich genauer erklärt. Die Einflüsse von Baudelaire auf die Doors, die sich wie die Stooges gegen den Flower-Love-Kram der Hippies auflehnen, spiegeln sich in der Todessehnsucht, dem sexuellen Unterton. Genau wie die Punks fast nur The Who aus Vorgänger akzeptierten, waren die Post-Punker von Jim Morrisons Weltschmerz fasziniert. "Die Doors waren die wahren Begründer des Goth-Rocks. Sex. Tod, Psychodrama. Ihr Vermächtnis war Vorbote einer Kultur, die noch kommen sollte".

Eine Grenze zieht Robb bei Nico von The Velvet Underground, deren "Marble Index" er zwar als erstes Goth-Album anerkennt, aber eben nicht als Goth-Rock-Album ansieht. Als dritte Band in dieser unheilvollen Dreifaltigkeit führt er The Stooges an, die erstmals einen düsteren Nihilismus in die Rockmusik einbringen. Deren Sänger Jim Osterberg, bekannter als Iggy Pop, sah die Doors und baute deren dunkel-erotische Bühnenshow zu einem Drogen-Selbstzerstörungs-Ritual aus.

Der späte Glam-Rock der Siebziger Jahre mit seinem Spiel zwischen androgyner Aura und barockem, aber auch eigenwilligem Auftreten, etwa der Sparks, schlägt noch einmal eine Brücke zwischen dem Hedonismus und der bevorstehenden Punk-Revolution. David Bowies "Low" und Iggy Pops "Lust For Life" bereiten bereits einen Proto-Post Punk vor.

Viel Platz für Ahnenforschung

Es ist wirklich erstaunlich, wie viel Platz in "Goth" diese Ahnenforschung einnimmt. Erst ab dem 13. Kapitel beschäftigt sich John Robb mit Siouxsie & Banshees. Die Band entsteht eigentlich aus einem Punk-Umfeld und erweiterte den Sound um dunkle Pop-Elemente, nahm aber trotzdem niemals das Goth-Etikett an. Sängerin Siouxsie Sioux gibt hier das erste große, weltweite Role Model für Goths, zumindest für die, die es sein wollen oder noch auf dem Weg dorthin sind. Der Look, eine Mischung aus Cabaret und Fetisch-Kleidung, findt weltweit begeisterte Nachahmer unter den Teenagern, denen Punk langsam zu eintönig erscheint. Die Jungs sind fasziniert und die Mädchen freuen sich über ein selbstbewusstes Vorbild.

Robb beschreibt gerade diese Zeit, in der er nun einmal sozialisiert wurde und aufwuchs, besonders ausführlich. Alles, das in den Achtzigern den Goth-Sound weiter definiert, bekommt einen Platz in den vielen weiteren Kapiteln über The Damned, Industrial-Bands oder Fields Of The Nephilim.

Am Ende kommt der Boomer durch

Die Neunziger und den Goth-Sound der Gegenwart handelt Robb dagegen im Schnelldurchgang ab. Goth sei nun Teil des Mainstreams, finde sich in "Wednesday" wieder – als existierte Burtons Formel nicht schon seit den Achtzigern. Wo vorher viel Wissen und selbst Erlebtes in das Buch einfloss, wirkt das letzte Kapitel wie ein schnell zusammengeschriebener Wikipedia-Eintrag. Es wäre spannend gewesen, zu lesen, wie sich Goth außerhalb des ziemlich britisch-fokussiert angelegten Buches ausgewirkt hat. Auch bleibt das Filmgenre sehr unterrepräsentiert, und etwas kommt eben doch der Boomer durch, der seine Jugend für den real Deal hält und die heutige Goth-Kultur nur auf ihre schlimmsten Auswüchse reduziert, die es so auch schon früher gab. Das sieht man auch bei ähnlich alten Menschen aus anderen Kulturen. Wer kennt nicht den Oldschool-Hip Hop-Fan, für den alles ab dem Millennium nichts mehr mit den wahren Werten zu tun hat?

"Goth" bleibt also ein sehr gutes Buch, um den Ursprung und die stilprägenden Figuren des Genres kennenzulernen. Die Kollegen von Spontis bemängeln in der englischen Ausgabe einige inhaltliche Fehler, auch andere Blogs klagen über das teils haarsträubende Lektorat und ärgerliche Typofehler. "Goth" zeigt Robbs Sicht auf seine Kultur, viele Ansichten bleiben streitbar und werden innerhalb der Szene - so jedenfalls meine Recherche - stark kritisiert. In der sehr guten deutschen Übersetzung von Joachim Hiller finde ich Fehler wie "Anje" statt Anja Huwe (X-Mal Deutschland) nicht mehr, auch die wohl teils abenteuerlichen Fußnoten der englischen Ausgabe wirken hier nun aufgeräumt und übersichtlich. Dass eine deutsche Übersetzung mal die Originalausgabe übertrifft, erlebt man auch nicht so oft. Dafür darf man Ox-Chef Hillers wahrscheinliche nicht gerade einfache Übersetzungsarbeit durchaus loben.

Man sollte "Goth" vielleicht nicht als die große Enzyklopädie ansehen, aber Robbs Leidenschaft für seine Musik, zumindest für die seiner Jugendtage, unterhält den Leser sehr und eröffnet neue Perspektiven, auch wenn das Buch Klischees manchmal sogar eher bestätigt als mit ihnen aufräumt. Eine weitere spannende Lektüre für Neueinsteiger in die Materie dürfte übrigens das gleichnamige "Goth"-Buch von Cure-Gründungs-Mitglied Lol Tolhurst und das ebenfalls empfehlenswerte "Post-Punk: Rip It Up And Start Again" von Simon Reynolds bereit halten. Ich hole jedenfalls beim nächsten Eisenlager-Besuch dieses Buch heraus und werde anerkanntes Mitglied. Oder besser gleich zum nächsten "Twilight"-Fantreffen geschickt.

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1 Kommentar

  • Vor 20 Stunden

    eigentlich waren die 90ies mit jack off jill, marilyn manson, NIN oder der renaissance des nick cave eine sehr spannende dekade für gruftis. fledermaushöhlenfreunde wurden auch durch die ein oder andere emo band abgeholt