Der Throbbing Gristle-Gründer führte ein Leben voller Tabubrüche. Nun hat er den Kampf gegen Leukämie verloren.

Konstanz (mis) - Genesis P-Orridge ist tot. Der Gründer der revolutionären Industrial-Bands Throbbing Gristle und Psychic TV starb im Alter von 70 Jahren, wie das Label Dais Records auf Facebook mitteilt. Dort bestätigen P-Orridges Töchter Genesse und Caresse den Tod der Avantgarde-Ikone am Samstagmorgen. P-Orridge kämpfte seit über zwei Jahren mit Leukämie.

P-Orridge war provokativer Performance-Künstler, Noise-Terrorist, inspirierter Schriftsteller, Esoteriker, Okkultist, Drogenschamane und selbst ernannter Sektenguru. Schon Ende der 60er Jahre lotete er die Grenzen des guten Geschmacks aus, wühlte in Exkrementen, aß Erbrochenes oder sezierte sich mit Rasierklingen. 1975 gründet er mit Cosey Fanny Tutti, Peter Christopherson und Chris Carter Throbbing Gristle. Die Aufbruchsstimmung des Punk nutzen sie, um den Provokationsgrad noch höher zu schrauben.

Auf ihrem eigenen Label "Industrial Records", das als Namenspatron einer ganzen Musikrichtung Geschichte schreiben wird, veröffentlichen Throbbing Gristle ab 1976 Platten, die von extremen Soundexperimenten geprägt sind. Die Musiker aus Manchester vertonen den postindustriellen Sound ihrer Heimat, der aus den Fabriken dröhnt. Dazu stellen sie filmisch eine Kastration nach oder integrieren Pornographie und Inzest.

Ein Tory-Abgeordneter beschimpft die Band im Britischen Unterhaus als "Abrissbirne der Zivilisation" - für P-Orridge zeit seines Lebens eines der schönsten Komplimente für seine Kunst. Der Verdienst der Gruppe, traditionelle Hörgewohnheiten in Frage zu stellen, wird erst viele Jahre später gewürdigt, etwa von Trent Reznor. Das dritte TG-Album "20 Jazz Funk Greats" gilt heute als Genre-Klassiker.

1981 löst sich die Band auf und P-Orridge gründet die Kunstsekte Temple Ov Psychick Youth sowie die Band Psychic TV, die sich melodischem Synthie-Pop verschreibt. Auf dem Debütalbum kooperiert er auf zwei Songs mit Marc Almond (Soft Cell). 1985 erscheint ihr bekanntester Song "Godstar", eine Hommage von P-Orridge an Rolling Stones-Gründer Brian Jones. Ende der 80er Jahre zählen Psychic TV zu Pionieren der Acid-House-Szene in Großbritannien.

In den 90er Jahren widmet er sich dem Spoken-Word-Projekt Thee Majesty. Außerdem sucht der mehrfach Tätowierte und Gepiercte eine neue optische Herausforderung und findet diese in der Aufhebung der Geschlechterdifferenzen. Zusammen mit seiner Lebensgefährtin Jackie Breyer konzipiert er das multigeschlechtliche Wesen Breyer-P-Orridge, in dem beide Persönlichkeiten verschmelzen: Zwei Körper, eine Seele. Vom Industrial- zum Gender-Pionier: P-Orridge lässt sich Brustimplantate einsetzen, Breyer unterzieht sich Gesichtsoperationen. 2007 stirbt sie mit nur 38 Jahren.

Throbbing Gristle feiern 2004 live eine Auferstehung, drei Jahre später erscheint sogar noch mal ein Studioalbum ("Part Two - The Endless Not"). 2010 stirbt sein Bandkollege Peter Christopherson. Live trat P-Orridge in wechselnden Besetzungen, auch noch während seiner Krankheit, unter dem Namen PTV3 auf, einer Weiterführung von Psychic TV. Aufgrund seiner Krankheit konnte die Band ab 2019 nicht mehr auf Tournee gehen und der Musiker sammelte erfolgreich Spenden via Crowdfunding, um seine Operationen bezahlen zu können.

Mit Genesis Breyer P-Orridge verlässt einer der faszinierendsten Tabubrecher der Musikgeschichte die Bühne. Seine mitunter grotesken optischen Auftritte der letzten Jahre, mit denen er ein auf Instagram-Filter geeichtes Publikum verstörte, wirkten wie ein Resümee seines künstlerischen Credos: Ein Leben für die Radikalität.

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laut.de-Interview Thee Majesty

Vor ihrem Konzert im Frankfurter Mousonturm trafen sich Genesis P-Orridge, Larry Thrasher und Bryin Dall, die derzeit unter dem Projektnamen Thee Majesty zusammen arbeiten mit den LAUT-Redakteuren Michael Schuh und Daniel Straub zum gemütlichen Plausch auf nicht immer ganz luftigen Sesseln. Nur keine Bange: Das Interview ist lang, aber es lohnt die Mühe (des Lesens).

laut.de-Porträt Psychic TV

Kaum haben Genesis P-Orridge und Peter Christopherson im Frühsommer 1981 als Throbbing Gristle ihr letztes Livekonzert in San Francisco gegeben, da rufen …

laut.de-Porträt Throbbing Gristle

Als sich Genesis P-Orridge, Cosey Fanny Tutti, Peter Christopherson (alle drei waren davor Mitglieder der Extremperformance-Gruppe Coum Transmissions) …

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