Wider den neurechten BRD-Beat: Ein überraschend punkhaltiger Abend voller menschlicher Wärme und Protest.

Köln (rnk) - Fibo. Was so putzig klingt wie ein holländischer Selbstbedienungsladen oder ein schmuckes Federvieh aus der Sesamstraße, entpuppt sich bei näherer Betrachtung als eine Fitness-Messe. Sehr breite und sehr düster dreinschauende Besucher dieses Events stehen in der Straßenbahn und sorgen für einen kurzen Moment für ungute Security-Vibes. Nein, das ist wohl eine ganz andere Welt mit wenig Überschneidungen zu einem Tocotronic-Konzert. 1994 spielten Dirk, Arne und Jan hier im Kölner Underground zusammen mit den Fünf Freunden ihr erstes Konzert, gut dreißig Jahre später darf die Band Cava aus Berlin für die Band eröffnen.

Peppi Ahrens und Mela Schulz überraschen die Besucher im E-Werk mit hartem Garage-Punk. In den letzten Jahren fiel die Wahl häufig auf weibliche Support-Acts, aber so herrlich laut und druckvoll wurde es dabei selten. Überraschend ist das angesichts der Tocotronic-Wurzeln nicht. Selbst das Cover des aktuellen Albums "Golden Years" ist der niederländischen Harcdore-Band Gore nachempfunden. Cava machen einen sympathischen Eindruck, freuen sich über ihr größeres Publikum und spielen ein schnörkelloses Set. Wer also immer darüber jammert, wie wenig wuchtig Tocotronic im Vergleich zu ihrer Frühphase klängen, bekommt hier einen schönen, lärmenden Einstieg in den Abend.

"Guten Abend, wir sind die Gruppe Tocotronic und wir begrüßen euch auf's Allerherzlichste, begrüßt Dirk von Lowtzow freudestrahlend das Publikum, kurz nachdem als Intro Prokofjews "Rittertanz" ertönt, eine dramatische Melodie aus dem Ballett "Romeo und Julia". "Der Tod ist nur ein Traum" als Opener soll laut Dirk an die Überführung zu einer neuen Zwischenwelt wie in "Die Gebrüder Löwenherz" führen. Ein im Grunde düsterer Jugendroman von Astrid Lindgren, in dem zwei Brüder sterben und in ein märchenhaftes Land gleiten. Ein Stoff wie gemacht für die ehemalige Hamburger Band, die früher so gerne die ewigen Jugendlichen mimte und den Groll auf die dunkle Welt der Erwachsenen zelebrierte.

Nun sind wir die Älteren und Lieder über Vergänglichkeit wirken nicht mehr nach romantischer Todessehnsucht. Die Scheiße ist real und dringt immer mehr in unseren Alltag hinein. Daher wirkt es gar nicht mehr komisch, wenn die Band sich bei ihrem Publikum bedankt, dass es noch am Leben ist und ein Besucher "Es war nicht immer einfach!" zurück ruft. Ja, könnte man nur wieder Michael Ende die Schuld für den ganzen Schlamassel geben, aber der kann sich auch nicht mehr wehren.

Das Geschenk des Lebens

Das Wasser des Lebens aus seiner "Unendlichen Geschichte" bekommt hier auch keiner, dafür aber "Das Geschenk". Dieses lange Drone-Stück aus der "K.O.O.K."-Phase ist eine nette Überraschung. Dirk und Jan stehen beide tief gebeugt über ihren Gitarren und wirken so im Halbdunkel eher wie eine Post-Rock-Band à la Explosions In The Sky.

In unserem Interview erzählte von Lowtzow zuletzt über seine Vorliebe für Drone und so ganz uncharmant ist der Gedanke nicht, dass Tocotronic wieder das Lust am Experiment entdecken. Ob das die langjährigen Fans so mitmachen, dürfte eine berechtige Frage sein. Die Mehrheit freut sich über die Klassiker wie "Ich verabscheue euch wegen euer Kleinkunst zutiefst" und natürlich als Abschluss "Freiburg".

Ein leerer Bierbecher fliegt auf die Bühne und ein Grüppchen davor schubst sich fröhlich durch die Gegend. Ohne Rick McPhail und mit Live-Gitarrist Felix Gebhard, so scheint es jedenfalls, kommt der Punk-Vibe wieder zurück: "This Boy Is Tocotronic" klingt nun roher und die Wut in "Denn Sie Wissen Was Sie Tun", der den ganzen neurechten BRD-Beat thematisiert.

Hoffnung trotz bröckelnder Brandmauern

Wer's immer noch nicht glaubt: Auch der angeblich linksgrünversiffte öffentlich-rechtliche Rundfunk gönnt sich im Zuge von "mehr Meinungs- und Perspektivvielfalt" mit der Sendung "Klar" jetzt eine neurechte Moderatorin. Die Brandmauern, irgendwann ein Fundament für den demokratischen Staat, existieren mittlerweile nicht mehr und das sichere Grundgefühl, dass Faschisten nach dem Holocaust nie wieder den Diskurs mitbestimmen, ist weg. Für sich gesehen alles Gründe, um genau so zu verhärten, aber dank dieses Gemeinschaftsgefühls mit vielen lieben Menschen kommt an diesem Abend im E-Werk wieder etwas Hoffnung zurück.

Später vermischen sich auf der Straße vor der Halle die Toco-Fans mit Besuchern der Band Bilderbuch aus dem gegenüber liegenden Palladium. Die vielen glücklichen Menschen gehen absichtlich langsam, weil sie noch ein bisschen dieses Hochgefühl und die Schönheit des Moments am ersten wirklichen Frühlingstag genießen wollen. Und wenn man später zahlreiche Fibo-Besucher bei McDonalds sitzen sieht, wirken auch diese Typen in ihren Camouflage-Shirts irgendwie menschlicher. Pure Vernunft darf niemals siegen.

Setlist:

Der Tod ist nur ein Traum
Bleib am Leben
Digital ist besser
Aber hier leben, nein danke
Gegen den Strich
Sie wollen uns erzählen
Denn sie wissen, was sie tun
Der Seher
Wie ich mir selbst entkam
Ich hasse es hier
Bye Bye Berlin
Ich tauche auf
Golden Years
Let There Be Rock
Ich bin viel zu lange mit euch mitgegangen
Drüben auf dem Hügel
Das Geschenk

Zugaben:

This Boy Is Tocotronic
Hi Freaks
Die Welt kann mich nicht mehr verstehen
Ich verabscheue euch wegen eurer Kleinkunst zutiefst
Explosion
Freiburg

Tocotronic auf Tour:

19.04.2025 Berlin, Columbiahalle
20.04.2025 Berlin, Columbiahalle
24.04.2025 Hamburg, Große Freiheit
25.04.2025 Hamburg, Große Freiheit
26.04.2025 Hamburg, Große Freiheit
05.06.2025 CH-Zürich, Unique Moments
06.06.2025 Rock Am Ring, Nürburgring
08.06.2025 Rock Im Park, Zeppelinfeld
25.06.2025 Kiel, Gewaltig leise
28.06.2025 Plauen, Malzhaus
03.07.2025 Trier, Brunnenhof
04.07.2025 Reutlingen, HafenSounds Festival
05.07.2025 AT-Feldkirch, Poolbar Festival
11.07.2025 Kassel, Zeltkultur
12.07.2025 Jena, Kulturarena
23.08.2025 AT-Petzen, Feistritz ob Bleiburg, Fuzzstock Festival
20.09.2025 Leipzig, Parkbühne

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