laut.de-Kritik

Wenn das aggressive Aufbegehren dem Flehen weicht.

Review von

Für Überraschungen war Polly Jean Harvey schon immer gut. Aber nichts von dem, was sie bisher musikalisch abgeliefert hat, bereitet wirklich auf ihr neues Album vor. Vorbei ist es mit vor den Kopf stoßenden Gitarren-Ausbrüchen und der aufwühlenden Aggressivität, mit der sie einst ihr Leiden am Dasein kanalisiert und der menschlichen Gutgläubigkeit ins Gesicht gebrüllt hat, dass überhaupt nichts gut ist.

Auf ihrem achten Studioalbum "White Chalk" weicht die E-Gitarre dem Piano, das laute Aufbegehren einem kraftlosen Flehen, das die stimmliche Gewalt der vorigen Alben nicht mehr aufbringen zu können scheint. Hat sie alle Hoffnung fahren lassen?

Ein sakral anmutendes, in schwarze Farben getauchtes Werk ist das, Hymnen an die Nacht, ein verstörender, nach innen gerichteter Aufschrei der Harvey, der umso schmerzhafter ist, als er sich mit der tristen Atmosphäre, dem irritierenden Gesang und der reduzierten Instrumentierung erheblich subtiler als die Vorgängeralben artikuliert.

Rhythmisch hämmernde Klavierakkorde, eingängige Drums und ein ätherischer Backgroundchor führen "The Devil" ein, ehe PJ mit von ihr nie gehörtem pastoralem Mädchengesang die Strophe ansetzt, als wolle sie mit aller Unschuld den Teufel austreiben, den sie besingt. Erst der anhebende Refrain offenbart, dass es sich um PJ Harvey handelt.

Das Verhältnis zur Einsamkeit thematisiert sie in "Dear Darkness" als scheinbar lustvolles, wenn sie sich mit zärtlichem Pianolauf, Harfenklängen, gestreicheltem Schlagzeug und der Textzeile "Dear darkness, won't you cover me again" der Dunkelheit hingibt. Gesanglich steht ihr John Parrish bei. Morbide Schönheit zeichnet auch das emotionale, mit klarer Stimme vorgetragene "When Under Ether" aus, das zum Piano, weicher Percussion und Synthie-Einlagen vom Schwellenbereich zwischen Leben und Tod erzählt.

Der Titeltrack "White Chalk" beginnt mit der geschlagenen Akustikgitarre, die Stimme Harveys ist mit Hall unterlegt, ein Banjo und eine Mundharmonika halten Einzug. Die relativ ungetrübte Stimmung steht dabei in Kontrast zum Text, der von ungeborenen Kindern und blutigen Händen handelt.

"Please don't reproach me/for how empty my life has become" singt sie langsam in "Broken Harp" zu schlichtem Harfenspiel, während "Silence" wieder auf einer einfachen Klavierlinie basiert, auf die sich eindringlich der gedoppelte Gesang der Künstlerin legt. Immer wieder fühle ich mich bezüglich der Songstrukturen und der Stimmung an die frühen Werke einer Chan Marshall alias Cat Power erinnert.

Hell und heiser haucht Harvey ihr Lyrics in "To Talk To You", das dem Hörer mit seiner Entrücktheit kaum Halt bietet. Der dynamischste Song folgt mit "The Piano". Wie ein atemloser Herzschlag gibt das Schlagzeug das Tempo vor, perlend setzen Klavier und Akustische ein, ehe Harvey zu einem ergreifenden Refrain ausholt. Die Stimmendoppelung und ein verstörender Backgroundgesang fungieren auch hier als Stilmittel, die einem das Blut gefrieren lassen.

Der ruhigen Pianonummer "Before Departure" schließt sich mit "The Mountain" das letzte Stück an, das luftig und versöhnlich beginnt und mit dem äußerst beklemmenden Wehklagen der Betrogenen abrupt endet und mich alleine lässt.

"White Chalk" ist ein düsteres Album, mit dem PJ Harvey eine musikalische Wandlungsfähigkeit unter Beweis stellt, die sowohl beeindruckt als auch bedrückt. Sie seziert nach wie vor menschliche Befindlichkeiten und Abgründe, aber mit dem Unterschied, dass sie mit dieser schwarzen Kammermusik nicht den Hammer benutzt, sondern das Messer wirkungsvoll innen ansetzt.

Trackliste

  1. 1. The Devil
  2. 2. Dear Darkness
  3. 3. Grow Grow Grow
  4. 4. When Under Ether
  5. 5. White Chalk
  6. 6. Broken Harp
  7. 7. Silence
  8. 8. To Talk To You
  9. 9. The Piano
  10. 10. Before Departure
  11. 11. The Mountain

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14 Kommentare

  • Vor 17 Jahren

    Heute ist PJs achtes Studioalbum erschienen. Und Laut hat's scheinbar nicht bemerkt! :angry:

    Es soll ganz anders klingen als seine Vorgänger. Weniger Gitarren, dafür mehr Piano, welches ihre Stimme in den Vordergrund rücken soll.

    Noch hatte ich nicht die Gelegenheit, reinzuhören. Wird aber dieses Wochenende nachgeholt und dann gibts auch ein Resümee meinerseits zu lesen. Bin sehr gespannt.
    Allein das Cover macht schon einen sehr fragilen Eindruck.

    Trackliste:
    01. The Devil
    02. Dear Darkness
    03. Grow Grow Grow
    04. When Under Ether
    05. White Chalk
    06. Broken Harp
    07. Silence
    08. To Talk To You
    09. The Piano
    10. Before Departure
    11. The Mountain

  • Vor 17 Jahren

    der erste eindruck ist schon mal sehr sehr positiv, im gegensatz zu den anderen alben wirken die songs hier ganz sanft und zerbrechlich. gefällt mir :)

  • Vor 17 Jahren

    bin auch gerade am durchhören. irgendwie erinnert es mich derzeit an die atmosphäre von "is this desire?", auch wenn die instrumentalisierung weitaus minimalistischer ausfällt.

    keinesfalls eine enttäuschung.