laut.de-Kritik
Zuckersüße Schläge ins Gesicht.
Review von Steffen EggertHört man von kometenhaften Aufstiegen im Music Biz, denkt man bezüglich des Genres vielleicht nicht sofort an Hardcore. Diese stets hoch energetische, in verschiedenste Subgenres unterteilte Spielart der knüppelharten Rockmusik bringt seit ihrer Entstehung immer wieder unantastbare Perlen hervor, die in den meisten Fällen erst einige Jahre nach ihrem Erscheinen in den Genuss einer verdienten Würdigung kommen. In kleinen, eingeschworenen Szenen gelebt und vom Mainstream gänzlich ignoriert, bleibt zuweilen auch die überbordende Innovation gerne mal auf der Strecke.
Die Entstehungsgeschichte der noch recht frisch auf der Bildfläche erschienen Scowl aus dem sonnigen Santa Cruz erscheint eigentlich recht klassisch, allerdings wie im Zeitraffer betrachtet. Frontsirene Kat Moss und ihre Mistreiter stammen aus der kalifornischen Punk- und Hardcoreszene um die legendäre Talentschmiede 924 Gilman Street, sind zuvor weder groß in anderen Band aktiv, noch besonders lange am Instrument. Der noch eher sortenreine Erstling "How Flowers Grow" (2021), eine viertelstündige Aggro-Orgie, kommt super an, die EP "Psychic Dance Routine" zeigt deutliche Schritte in Richtung musikalischer Weiterentwicklung und in der Zwischenzeit klettert das Kollektiv über einige der größeren Bühnen dieser Welt.
Die zweite Großtat "Are We All Angels" hat just das Presswerk verlassen und zeigt eine in mehreren Belangen gewachsene Band. Der noch eher dezent auftretende Opener "Special" leitet mit gewaltig polternden Drums und High-Gain Gitarren ins muntere Treiben ein. Obwohl anfänglich noch recht gefällig und bis zum ersten Chorus förmlich zuckrig, schwebt von Sekunde eins an ein unsichtbares, bedrohliches Element über dem Gehörten. Nach und nach, kompositorisch vorbildlich gelöst, schleicht sich die blanke Aggression ins vordergründig poppige Feld. Frau Moss wechselt von lieblicher angenehmer Stimme zu blindwütigem Gekeife, ohne dass Einbußen hinsichtlich der Eingängigkeit entstehen.
Gleich mit dem folgenden "B.A.B.E." findet das Kokettieren mit den klanglichen Gegensätzen seine Perfektion und der erste unumstößliche Hit des Albums purzelt aus dem Hut. Ein Riff legt die Harcore-Punk Wurzeln frei, die Shouts würde Tote wecke, viel lebendiger kann Musik kaum klingen. Lange bevor Eintönigkeit aufkommen kann, wechselt die Stimme in eine angenehme Gangart und positive, beschwichtigende Akzente treten auf den Plan. Es grooved heiter, der zerrige Bass tanzt wild und alles zusammen erinnert irgendwie an einige mit Frauen gefrontete Bands aus den 90er Jahren, und zwar absolut im besten Sinne.
So klingen Songs wie "Fantasy" oder "Tonight (I’m Afraid)" streckenweise regelrecht wie aus der Zeit gefallen, an anderen Stellen wieder frisch und zeitlos. Gelegentlich sogar wie eine moderne Reinkarnation von Hole oder späteren L7, aber ohne, dass man hier über Plagiate klagen müsste. Obwohl hier klar viel poppige und moderne Elemente verbaut wurden, kann nicht von reiner Positivität die Rede sein. Irgendwie stehen Zweifel, Ängste und Unsicherheiten mit auf der Liste der verschiedenen Eindrücke, was aber zu keiner Zeit unangenehm, sondern eher authentisch rüber kommt.
Im absoluten Gegensatz stehen beschwingtere Stücke, wie das zuckrige, sehr angenehme "Not Hell, Not Heaven", das mit super eingängigen Melodien glänzt und die bombastische Hymne "Suffer The Fool (How High Are You?)". Am einfachsten lässt sich dieses Schmuckstück als leicht krassere, groovigere Essenz aus all jenem beschreiben, das früher die Bezeichnung College Rock aufgedrückt bekommen hat. Was hier ins Ohr geht, bleibt dort. Am Ende ballert der Titeltrack kompromisslos und höchst geschwind alles nieder und erinnert uns daran, dass wir eigentlich ein Hardcore-Album aufgelegt haben.
Immer wieder spielen Scowl mit Stilmitteln, die im Hardcore nicht regelmäßig Verwendung finden. Doppelstimmige Gesänge oder Gitarrenlicks, Rhythmusexperimente und hin und wieder elektronische Hightlights gehören ebenso zum Album wie Ausflüge in den Shoegaze oder den süßlichen Pop-Punk. Der Aufbau von Spannungsbögen auf einem eher simplen Fundament stellt eine der herausragendsten Eigenschaften dieser Kalifornier*innen dar und macht "Are We All Angels" jetzt schon zu einem der spannenderen Alben des Jahres.
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