laut.de-Kritik
288 Titel. Noch Fragen?
Review von Giuliano BenassiDas Label aus Vollersode bei Bremen verwöhnt uns bereits seit 1975 mit liebevoll wie akribisch zusammen gestellten Retrospektiven, von einzelnen Künstlern wie auch zu bestimmten Themen. Das Unterfangen, das Bear Family im Sommer 2014 veröffentlicht, scheint auf dem Papier aber selbst für sie zu schwierig: Die Geschichte der amerikanischen Folk-Musik zu erzählen.
Schwierig einerseits, weil der Umfang nicht auszumessen ist, andererseits, weil es darum geht, kaum definierbare Grenzen zu ziehen. Wo enden Jazz und Blues, wo beginnt Folk? Eine Frage, die sich schon Dave Van Ronk stellte, der Mayor of Dougal Street, der hier selbstverständlich auch vertreten ist.
Geschichten, mit einfachen Mitteln vorgetragen, die von Liebe und den bekannten Problemen zwischen Männlein und Weiblein handelten, aber auch von Kriegen, Katastrophen, politischen Umständen, sozialen Unzulänglichkeiten. Iren, Schotten und Engländer brachten die Musikform aus ihren Heimatländern mit und verbreiteten sie in der Neuen Welt. Ein Sänger schnappte ein Lied von einem anderen auf, veränderte es, machte es zu seinem eigenen. So ging es, Jahrhunderte lang.
Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts begann man damit, das Liedgut zu katalogisieren und systematisch aufzunehmen. Einen großen Beitrag leisteten John Lomax und sein Sohn Alan, die Tausende von Stücken auf Vinyl und Band bannten. Heute sind sie Teil des Archive of Folk Culture der Library of Congress, der Bibliothek des US-Abgeordnetenhauses. Die davon abgeleitete "Anthology Of American Folk Music", 1952 erschienen, bildet heute noch den Kanon für jeden, der sich für das Genre interessiert.
In einer gewissen Hinsicht beginnt "Troubadours" da, wo die "Anthology" aufhört, nämlich mit der Kommerzialisierung des Folks. Überschneidungen gibt es natürlich, vor allem auf Part 1, der sich mit den 1940er und 50er Jahren beschäftigt. Es war die Zeit der zwei Folk-Überväter, des Streuners Woody Guthrie und des politisch engagierten Pete Seeger, Letzterer unter eigenem Namen, aber auch mit den Almanac Singers und den Weavers tätig. Die Carter Family hatte schon zuvor mit ihren Harmonien für Furore gesorgt, wie auch Lead Belly, der mit seinem kriminellen Hintergrund Songs aus dem wahren Leben vortrug.
In den 50er Jahren entwickelte sich im New Yorker Greenwich Village eine quirlige Folk-Szene, die auf dem Washington Square und in immer mehr Clubs und Cafés Fuß fasste. Part 2 beschäftigt sich mit jener Zeit, als Folk plötzlich Mode wurde. Nachdem Harry Belafonte (der hier nicht vertreten ist) mit dem Album "Calypso" 1956 einen großen Erfolg feierte, schossen Folk-Pop-Bands wie das Kingston Trio, die Highwaymen oder die New Christy Minestrels aus dem Boden.
In die verrauchten Cafés zog gleichzeitig auch eine Bohème ein, die in Bob Dylan ihren bekanntesten Vertreter fand, sich aber nicht auf ihn beschränkte. Ob Dave Van Ronk, Tom Paxton, Phil Ochs oder Eric Andersen – auch sie leisteten einen wichtigen Beitrag.
Aus dem Folk-Revival wurde Politik. Bob Dylan war ungewollt zum Sprachrohr seiner zunächst unangepassten Generation geworden, andere sprangen mit Freude auf den Protest-Zug, wie Part 3 zeigt. Joan Baez natürlich, aber auch und wieder Pete Seeger, der bis zu seinem Tod im Januar 2014 eine schillernde Figur blieb. Buffy Sainte-Marie machte das Erbe der amerikanischen Ureinwohner zum Thema. Doch nicht alles war Politik. Und Folk fand auch außerhalb von New York statt. Zum Beispiel in Boston, das eine ebenfalls lebendige, wenn auch weniger bekannte Szene zu bieten hatte, unter anderen mit Tom Rush oder Eric von Schmidt.
Andere knüpften wieder stärker an die Vergangenheit an. Ramblin' Jack Elliott machte es seinem großen Idol Woody Guthrie gleich und reiste kreuz und quer durchs Land, dessen Sohn Arlo Guthrie reicherte Folk mit Rock-Elementen an und wurde zu einem der bekanntesten Künstler, die 1969 beim chaotischen wie den Zeitgeist prägenden Woodstock Festival auftraten.
Part 4 beschäftigt sich mit weiteren geographischen Wirkungsstätten. Auch die Westküste hatte ihren Folk, vor allem in Los Angeles und San Francisco. Unter ihnen durchaus bekannte Vertreter wie The Byrds, Tim Buckley, Harry Nilsson, John Denver oder Richard Farina und seine Frau Mimi, Joan Baez' Schwester.
Im Süden vermischte sich der Folk stärker als anderswo mit Country, etwa bei Kris Kristofferson oder Townes Van Zandt. Aus dem Süden stammte auch Hedy West, die mit "500 Miles" einen der Folk-Songs schlechthin lieferte. In Chicago machten sich Shel Silverstein und John Prine einen Namen, in Kanada Gordon Lightfoot und Joni Mitchell.
Der Umfang des Werkes ist wirklich beeindruckend. Lücken sind dennoch vorhanden. Wo bleibt zum Beispiel Johnny Cash, dessen Rolle nicht genügend gewürdigt werden kann? Oder Neil Young? Künstler oder Stücke nach Beginn der 70er Jahre sind auch nicht vertreten, als könne man meinen, Folk sei einen plötzlichen Tod gestorben.
Man darf aber nicht vergessen, dass Bear Family bei vielen Liedern die Erlaubnis der Labels einholen muss und sicherlich nicht immer Zusagen erhält. Dagegen lässt sich wenig machen. Dafür sind die vorhandenen Stücke behutsam restauriert – von guter Klangqualität, aber mit der notwendigen Patina versehen. Eher schade dagegen, dass die Übersetzung der akribisch recherchierten Texte des Folk- und Country-Wissenschaftlers Dave Samuelson nicht immer fehlerfrei, teilweise auch wenig inspiriert übersetzt sind.
Doch das sind nur Anmerkungen am Rande. 12 CDs mit 288 Aufnahmen und gut 100 Künstlern bzw. Bands, dazu noch über 500 mit Informationen und Fotos gespickte Seiten auf vier Booklets verteilt - "Troubadours" ist eine wahre Goldgrube, in der man über Jahre mit viel Gewinn schürfen kann. Danke, Bear Family!
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