laut.de-Kritik

Untergrund nicht als Dogma, sondern als verdammt gute Zeit.

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Das Problem mit richtigen Untergrund-MCs ist oft, dass sie kommen und gehen. Sie flackern auf der Bildfläche auf, zeigen Talent, zeigen Hunger, haben etwas zum Game beizutragen, aber nach dem ersten Schub kommt eine kreative Flaute, es fehlt die Muße oder die richtige Connection zum nächsten musikalischen Schritt – und plopp, hat sie der Rest ihres Lebens schon wieder verschluckt.

Ich hatte ein bisschen Bammel, dass es Alice Dee irgendwann so gehen könnte. Der in Berlin lebende Rapper hat in den letzten vielen Jahren schon öfter ziemlich geil gerappt und ziemlich coole Musik herausgebracht, aber sich einem definitiven Sound und einer definitiven Vision nur angenähert. Die neue EP "Komm" zeigt nun Ausdauer. Alice Dee ist nämlich nicht nur besser denn je, die Steigerung wächst im Moment explosiv und exponentiell.

Die ganze EP ist aus diesem DIY-Jugendhaus-Hausbesetzer-Show-Ethos gewachsen. Das kann in negativen Fällen gut gemeinten, aber hölzern-belehrenden Trommelkreis-Rap bedeuten, in den guten Fällen Kids mit Bock auf Musik, die Party mit anderen Leuten machen, die sonst nirgends hineingepasst haben. Und Alice entwickelt sich zur Zeit zur bestmöglichen Ausprägung dieser sehr spezifischen Musiktradition: Der Kern von "Komm" macht Outsider-Party, irgendwo zwischen bassigem Clubshow-Rap und elektronischen Elementen, eben zusammengebaut aus dem Schutt von allen guten Partys in den stabilen Provinzkellern der Republik.

Der Titeltrack und "Fuck It Up" gehen positiv an den alternativen Lebensstil heran. Nicht Definition über die Negative, sondern Ausleben, was die guten Seiten dieser Musik-Position ausmacht. Venues und Partys, auf denen man Regeln und Stimmung selbst definieren kann, eine engmaschig vernetzte Community, ein ganz eigenes Solidaritäts-Gefühl. Viele Stilgenossen scheitern daran, dass dieses Untergrund-Ding stressig und frigide wirkt, Alice zeigt in vielen Facetten, warum das allen voran erst einmal Spaß macht: Die Tracks kommen überzeugt, resilient, flirty und energetisch. Untergrund nicht als Dogma, sondern als gute Zeit. Ein wahrlich revolutionäres Konzept.

Kein Track geht dabei härter als der Closer "Pushing Limits", der bisher von all ihren Songs vermutlich mit den härtesten Beat mitbringt, House-Geschrammel mit einer süchtig machenden Synth-Line und viel Bewegung und Abwechslung. Platz für Alice zu zeigen, wie gut die Flows kommen: Klingt, als würde das auch live einen Heidenspaß machen – und beruhigt, dass Alice inzwischen tatsächlich einen Sound gefunden hat, in dem die musikalische Identität nicht stagniert oder angeschweißt ist, aber doch Heimvorteil genießt.

Die zweite Hälfte der EP ist der Ort, wo die Magie passiert. "Lass Los" ist full stop der beste Song, den Alice je gemacht hat. Nicht nur, weil dieser minimalistische, ohne jeden Kitsch oder Pathos ergreifende, nüchterne Beat Atmosphäre noch und nöcher aufbaut, sondern weil Alice den Songaufbau brillant mitnimmt, es kommt so fokussiert, wie vor dem langsamen Fade-In der melancholischen instrumentalen Melodie nur auf dieser experimentellen Percussion gerappt wird, dann kommt alles zusammen, es wird zwischen Melodie und rhythmischen Tricks gewechselt. Viel handwerkliche Raffinesse für einen extrem tiefen Einblick in den eigenen Gedankenprozess – Einsicht über Resilienz, Heilung, Verwundbarkeit, guten Willen und das Wachsen an traumatischen Prozessen.

Auch wenn "Lass Los" den klaren Höhepunkt markiert: "Komm" ist alles, was man sich als jemand wünschen könnte, der Alice schon eine Weile verfolgt. Das Talent und der Hunger, die Leidenschaft, wirklich eine Kerbe abseits der großen Mainstreams zu schaffen, bleibt erhalten. Aber an allen Fronten merkt man, dass hier so viel mehr Arbeit, mehr Konzentration und mehr Konsequenz in den musikalischen Prozess geflossen sind, die bisherigen Schwächen fast gänzlich ausgemerzt. Der Sound klingt auch jenseits der Live-Show geil, die Stimmung bildet ein komplexeres Gesamtbild und das Songwriting geht auf ein neues Level. Wenn Alice diese Energie beibehält, dann könnte "Komm" der Punkt sein, an dem seine Karriere eine lang verdiente Renaissance erfährt.

Trackliste

  1. 1. Komm
  2. 2. Fuck It Up
  3. 3. Alles Fließt
  4. 4. Wenn Ich Drop
  5. 5. Lass Los (feat. Naeehma)
  6. 6. Pushing Limits

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