laut.de-Kritik
Endlich wieder Nullerjahre-Vibes.
Review von Rinko HeidrichArcade Fire waren als Band schon immer zu mächtig für kleine Konzerthallen. Mit ihrem hochgelobten 2005er Debüt wirkten sie fast ebenbürtig zu den großen Bands, deren Support sie selbst waren. "Funeral" hatte alles, was Tausende Menschen in Ekstase bringt. Die ausufernden Hymnen und die große David-Bowie-Geste. Indie war nur das eigentlich sehr integere Merge-Label, das auf die Kanadier früh aufmerksam wurde. Ein verkappter Major-Act auf einem kleinen, familiären Label - das gelingt nicht jedem. Arcade Fire konnten wiederum lange von einem Indie-Ruf zehren, der in den letzten Jahren auf immer größere Produktionen traf. Die Band um Win Butler ist heute ein längst im Mainstream angekommener, lupenreiner Pop-Act.
Das macht schon der Zweiteiler "Age Of Axienty I/II" klar. Part 1 lässt sich schon kaum noch von Imagine Dragons unterscheiden, der zweite Teil fährt ein ebenso großes Synthie-Gewitter auf. Das war es dann mit der leisen Hoffnung, die Band würde aus ihrer "Everything Now"-Müdigkeit herausfinden. Die Tracklist beschwört beinahe zu gewollt das "Funeral"-Gefühl mit seinen Unterteilungen und Unterkategorien herauf, die Mächtiges und Kunstvolles ankündigen. Blöd allerdings, wenn ein dreißigsekündiges "Prelude" rein gar nichts bietet außer einem Industrial-Sound. Doch kein Problem, so lange man Arcade Fire ist. Sie holen einfach Star-Produzent Nigel Godrich als Produzent dazu oder lassen eine Legende wie Peter Gabriel in "Unconditional II (Race And Religion)" kaum erkennbar ein paar Sekunden etwas einsingen.
Ein großes Privileg eigentlich und kein Grund zu maulen. Butler tut es trotzdem, denn thematisch überwiegt wie schon 2017 ein gewisser Kulturpessimismus. Jeder ist nur noch in den sozialen Medien unterwegs und bestellt Musik wie irgendein Produkt über Online-Plattformen. Alles ist verloren, vor allem die USA. "End Of The Empire I–III" philosophiert zu schwülstigem Saxophon über real existierende Löcher wie Sagittarius A*, die im Zentrum der Milchstraße das Licht einsaugen. Große, gewaltige Bilder, kinoreif dargestellt und breit vortragen. Das Albumcover offenbart nebenbei eine Verbindung zu einem anderen großen Pathos-Sänger: Scott Walkers Pupillen-Motiv auf "Scott 3" schaut einen nach längerer Betrachtung an und allzu weit entfernt ist Butler von Walkers surrealem Sci-Fi-Crooner-Gesang wirklich nicht.
"The Lightning" hingegen klingt wie The Killers, hätten sie ihre letztjährige Springsteen-Verbeugung komplett in den Sand gesetzt. Ein wirklich schlimmes E-Piano und der Seifenoper-Gesang von "The Lightning I" gehen einem wirklich runter wie zähflüssige Melasse, bis der zweite Part zum Glück eine andere Seite zeigt. Die Kanadier können es noch: Eine Hymne erschaffen, die wie barocke Kunstgemälde wirkt. Das Klavier pumpt, Arcade Fire verschmelzen wieder zu einem Kollektiv und bringen "Wake Up"- oder "No Cars Go"-Begeisterung zurück.
Überhaupt versuchen sie auf "We" oft, wieder an die "Funeral"-Wurzeln zurückzukehren. Aber das ist 17 Jahre her, die Welt, wir alle, sind müder geworden. Die zuversichtliche Hoffnung auf eine glänzende Zukunft scheint weit entfernt. Nicht umsonst dient Jewgeni Iwanowitsch Samjatins Roman "Wir" als Inspiration für die Weltuntergangsstimmung dieses sechsten Albums. Die Individualität geht verloren, der Staat kontrolliert.
Win Butler und seiner Ehefrau Régine Chassagne scheint dazu auch nicht mehr als der Rückgriff auf ein altes Erfolgsrezept einzufallen. Dennoch dürfte die Kopie ihres ursprünglichen Trademark-Sounds allen gefallen, die endlich wieder Nuller-Jahre-Vibes spüren wollen. Bleibt die Frage, was Arcade Fire heute sein wollen: Wieder Indie-Liebling, jedermanns Pop-Band mit 80er-Synthie-Tanznummern, ein bisschen altklug, aber am Puls der Zeit? Die Wahrheit liegt wohl irgendwo in der Mitte, im Konsens, damit jeder ein bisschen zufrieden, wenn auch nicht rundherum glücklich ist.
So scheint der Pessimismus allgemein nicht unbegründet, auch die Band selbst flüchtet in Durchhalteparolen: "Don't quit on me / 'll never quit on you" appellieren sie in "The Lightning". Tun wir nicht, denn letztlich gelingt ihnen mit "We" wieder ein zufriedenstellendes Pop-Album, irgendwo in der Mitte der immer noch bemerkenswerten Werkschau und immer noch besser als alles, was derzeit gerne Indie-Pop sein möchte.
12 Kommentare mit 19 Antworten
"Reflektor" war der Höhepunkt. Wenn ich die Wahl hab zwischen der Langeweile der Platten davor und der danach, nehm ich aber auf jeden Fall die davor. Keiner braucht ein weiteres Coldplay.
Gähn, so edgy mal wieder.
Wasn daran edgy? Sind wir hier schon so meta, daß ne ehrliche Meinung als Trollen gilt? Oder stehste auf den Coldplayschen Kaufhaussoundtrack der letzten zehn Jahre?
Ragi ist hier in der Tat mal wieder typisch edgy unterwegs aber aus einem anderen Grund als du annimmst.
Denn Arcade Fire konnten nur in ihren allerbesten Momenten gerade mal so mit Coldplay in ihren allerschwächsten Momenten mithalten, deswegen ist es unmöglich, dass Arcade Fire die neuen Coldplay werden könnten.
"The Suburbs" war der Höhepunkt. Wenn ich die Wahl hab zwischen der Atmosphäre der Platten davor und der danach, nehm ich aber auf jeden Fall die davor. Keiner braucht noch eine weitere sich bis zur Belanglosigkeit an antizipierte Fan-Erwartungen anbiedernde Indiepop-Band.
!
Nur war halt "The Suburbs" die Ambiederung an die Indiepop-Fans, die auf "Funeral" standen. "Reflektor" war der Mut zum Risiko und vielen Genres auf einer Platte. Danach wurde es erst richtig schlimm.
Suburbs war vor allen Dinges eines: zu lang. Außerdem der schlechteste Track der Band mit dabei: Sprawl II.
Ragi hat aber das eine mal pro Jahr, wo er wirklich richtig recht hat, für 2022 bereits aufgebraucht und dass "The Suburbs" die durchschnittliche Aufmerksamkeitsspanne desjenigen muppet-Aspiranten um mehr als das Doppelte übersteigt, der sich eh noch nie entscheiden konnte ob er jetzt lieber regelmäßig ernsthaft in Musikdiskussionen einbezogen werden möchte oder lieber stumpf weiter vor sich hin trollen will, sollte hier auch niemanden mehr groß überraschen...
Also für die zwei Stunden "To Be Kind" von den Swans reicht meine Aufmerksamkeitsspanne.
Oder für die 16 Minuten "Ugly And Vengeful" des blonden Engels aus Schweden.
Oder für drei Stunden Konzert von Motorpsycho.
Bin ich mit meiner Ambivalenz bei dir nicht an der richtigen Adresse? Vielleicht sollte ich doch endlich einmal Escitalopram ausprobieren. Nur schaffe ich es noch nicht einmal zur Neurologin, um es mir verschreiben zu lassen.
"To Be Kind" - heiß! ♥
Also Sprawl II als den schlechtesten Track der Band zu bezeichnen, ringt mir ehrlich gesagt auch mit Wissen um C452his Vorliebe zu random-Provo a la Sommer bei den Mädels ein bisschen Schnappatmung ab
Ich bereite den zweiten Scheiterhaufen vor!
In der Tat hat c452h hier einige gewichtige Argumente hinsichtlich seiner Aufmerksamkeitsspanne ins Feld geführt. Wenn er es jetzt noch schafft für sämtliche Spaß-Troll-Geschichten konsequent einen sog. stets zustimmenden Zweitaccount zu bemühen sehe ich auf meiner Seite keine tiefgreifenden Hindernisse mehr, die mich von seinem zukünftigen Einbezug in ernsthafte Musikdiskussionen abhalten würden.
Dieser Kommentar wurde vor 2 Jahren durch den Autor entfernt.
...und Escitalopram bekommst Du natürlich nicht bloß bei der Neurologin, FÄ für Psychotherapie und/oder Psychosomatik, niedergelassene Psychiater sowie unbekümmerte Hausärzte, die dieses ganze Psychopharma-Dingens nicht so eng sehen (letztgenannte Alternative für Einsteiger in dieses Feld nicht empfohlen) verschreiben es ebenfalls.
Mein erstes Album von ihnen war Funeral. Seitdem bin ich Fan.
Nach Funeral hab ich mir noch die alten Alben zugelegt. Mag eher diese Phase als die neueren Album. Aber aus Erfahrung kann ich sagen, dass die Alben nicht immer beim ersten hören total zünden. Also am besten anhören und nach einiger Zeit nochmal hören. Und nochmal. Dann macht's auf einmal Klick und man möchte es nicht wieder missen.
Das finde ich so genial an ARCADE FIRE.
Schade! Enttäuschungen dieser Art war ich zuletzt nur von Interpol gewöhnt ...
Immer noch besser als viele andere Alben der letzten Wochen. Einige gute Songs sind dabei, wenngleich die Großtaten anscheinend wirklich schon geschrieben wurden. Live sicherlich immer eine Reise wert. Aber bahnbrechend Neues wird man nicht erwarten können. Immerhin nicht den Weg von Coldplay gegangen.
Will laut.de denn nicht über die neuesten News aus dem Hause Arcade Fire berichten?