laut.de-Kritik
Ohne "Judas", aber mit grandioser Musik.
Review von Giuliano BenassiNach der einigermaßen überraschenden Verleihung des Literaturnobelpreises an Bob Dylan im Oktober 2016 war vor allem eines interessant: Was würde der Meister selbst dazu sagen? Wie sich heraus stellte: gar nichts. Er schwieg beharrlich, weigerte sich, zur Verleihung nach Schweden zu reisen und schlug selbst eine Einladung ins Weiße Haus aus, obwohl er Noch-Präsidenten Barack Obama schätzt.
Auch seine Webseite blieb von all dem Rummel unberührt. Dort war nur zu erfahren, dass sämtliche Konzerte aus dem Jahr 1966, 23 an der Zahl, auf 36 CDs erscheinen sollten. Menschen, die sich nicht für Bob Dylan interessieren, mag das etwas merkwürdig vorkommen. 36 CDs? Und das alles, um ein Jahr (in Wirklichkeit nicht mal die erste Hälfte davon), zu dokumentieren? Ihnen sei gesagt: 1966 fand ein entscheidender Bruch statt. Denn jene Auftritte in den USA, Australien und Europa beendeten die nicht erwiderte Liebesbeziehung zwischen einem beachtlichen Teil des Publikums und dem Meister selbst.
Der bekannteste Auftritt dieser Tour fand am 17. Mai in Manchester statt. "Judas!", rief jemand aus dem Publikum, erbost über Dylans Performance. "Ich glaube dir nicht. Du bist ein Lügner", erwiderte dieser, merklich aufgebracht. "Play it fucking loud", wies er seine Band an, die sich anschließend besonders ins Zeug legte.
Unter dem Titel "The 'Royal Albert Hall' Concert" kam der Manchester-Auftritt bereits 1998 als Teil 4 der "Bootleg Series" in den Handel. Als Bootleg im ursprünglichen Sinne des Wortes (also als ungenehmigte Aufzeichnung) kursierten Aufnahmen bereits seit Beginn der 1970er Jahre. Die Anführungszeichen im Titel wiesen also darauf hin, dass der Ort falsch angegeben war.
Dylan trat aber tatsächlich in der ehrwürdigen Londoner Halle auf, und zwar eine gute Woche später, am 26. und 27. Mai. Es waren die letzten zwei Auftritte der Europa-Tour. Der erste davon wurde professionell für ein mögliches Livealbum aufgezeichnet. 50 Jahre später erscheinen sie nun als Auszug der 1966-Box auch auf Vinyl.
Die Qualität der Stereo-Aufnahme ist demnach gut. Fast unnötig zu erwähnen, dass ein solcher Auftritt dem Publikum heutzutage Tränen der Freude und der Rührung in die Augen treiben würde. Denn Dylan hatte das Set als Zweiteiler konzipiert, erst solo, dann nach der Halbzeitpause mit Band.
Also trat er auf die Bühne, wie man es von seinen ersten Platten gewohnt war und wie er es danach kaum noch tun würde, eine hagere Gestalt mit Akustikgitarre und Mundharmonika. Und Zeilen, die in Stein gemeißelt schienen. Zum Unmut des Publikums spielte er nicht die "Protest"-Lieder, die ihn bekannt gemacht hatten, "The Times They Are A-Changin'", "Blowing In The Wind", "Masters Of War" oder "With God On Our Side". Die sieben Stücke, die er vortrug, stammten ausnahmslos aus "Bringing It All Back Home", "Blonde On Blonde" und "Highway 61 Revisited", also jenen Alben, die 1965 und 1966 die "elektrische Wende" eingeläutet hatten.
Grandiose Stücke, die auch in akustischem Gewand bestens funktionieren. So zärtlich wie in "Just Like A Woman" hat Dylan selten geklungen. Lediglich das letzte Stück des Sets, "Mr. Tambourine Man", das die Byrds in den USA an die Spitze der Charts geführt hatte, wirkt etwas schludrig.
Noch klatscht das Publikum artig, wenn auch nicht begeistert. Das ändert sich, als Dylan mit Begleitband zurückkehrt, bestehend aus Gitarrist Robbie Robertson, Bassist Rick Danko, Pianist Richard Manuel, Orgelspieler Garth Hudson und Schlagzeuger Mickey Jones.
Schwierigere Arbeitsbedingungen sind kaum vorstellbar, mussten sie doch Monate lang miterleben, wie Dylan im ersten Teil gedämpft gefeiert und im zweiten offen angefeindet wurde. Der ursprüngliche Schlagzeuger Levon Helm hatte die Band bereits 1965 verlassen, im Laufe der Tour wurde sein Posten zweimal neu besetzt. Die gellenden Pfiffe waren offenbar zuviel für schwache Drummer-Nerven.
Dem Publikum muss man zugestehen, dass die Lautstärke tatsächlich sehr hoch war, im Vergleich zum akustischen Teil. Doch was Dylan und seine Band auf der Bühne veranstalteten, war Rock-Musik vom feinsten. In einer Zeit, in der die meisten erfolgreichen Bands ihre Hits runterleierten und sich danach schleunigst verabschiedeten, nahmen sie sich die Zeit, die Stücke virtuos zu interpretieren.
"Tell Me, Momma" hat Dylan auf keinem Studioalbum aufgenommen, "I Don't Believe You (She Acts Like We Never Have Met)" ist dagegen ein Stück von 1964, also aus seiner akustischen Zeit. "Baby, Let Me Follow You Down" stammt gar aus seinem Debüt von 1962, "One Too Many Mornings" aus "The Times They Are A-Changin'" (1963). Es klinge sehr ähnlich, versucht Dylan das Publikum erfolglos zu besänftigen. Mit einem räudigen "Like A Rolling Stone" verabschiedet er sich schließlich von der Bühne. So wütend, wie er singt, könnte man meinen, dass er den Refrain auf sich selbst bezieht: "How does it feel /To be on your own, with no direction home / A complete unknown, like a rolling stone".
Nach den Londoner Auftritten kehrte Dylan tatsächlich zu seiner Familie in Woodstock nahe New York zurück und nutzte einen Motorradunfall, um viel Rauch zu erzeugen. Eine Zeit lang galt er gar als tot. In Wirklichkeit wollte er nur seine Ruhe haben. Seine Begleitband mietete in der Nähe ein rosa angestrichenes Haus und stellte im Keller ein rudimentäres Aufnahmestudio zusammen. Die dort entstandenen "Basement Tapes" und "Music From Big Pink" gehören zu den bekanntesten Platten der populären Musik. Auf Tour ging Dylan erst 1974 wieder.
50 Jahre sind vergangen, dennoch ist es immer noch faszinierend, zu erleben, wie schwierig die Beziehung zwischen Dylan und seinem Publikum war. Während die damaligen Raufbolde längst ihren Frieden mit der damals neuen Musik Dylans geschlossen haben, hat er selbst sie nicht vergessen. Insbesondere der "Judas"-Ruf geht ihm immer noch nach. "All those evil motherfuckers can rot in hell", erklärte er 2012. Für den Friedensnobelpreis kommt er wohl nicht in Frage.
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