laut.de-Kritik

Weltschmerz kann so unkompliziert sein, so wunderschön dumm.

Review von

Cap'n Jazz ist eine Band, wie sie Anfang der Neunziger zu Tausenden aus dem Boden schießen. Es sind gelangweilte Kids aus der Vorstadt, zwei Brüder mit andächtig-rebellischen Rockstar-Tagträumen, ein Lateinamerikaner mit etwas zu viel Skill an der Gitarre, der sich die weißeste Vorstadt Chicagos mit LSD interessant hält, und aus irgendeinem Grund spielt der Schul-Quarterback für eine Weile Schlagzeug. Man würde nichts Unrechtes sagen, würde man behaupten, das musikalische Talent hier sei überschaubar dosiert. Und doch - irgendwo zwischen dem abstrakten Instrument-Genudel und dem Teenager-Pothead-Surrealismus entsteht ein Funke Genie, wie er nur in einer von diesen zehntausend Band-Petrischalen zünden konnte. Das kurze, instabile Gebilde Cap'n Jazz macht ein Album und einen Haufen Outtakes, die in ihrer explosiven, sehnsüchtigen und der Lobotomie nahen Intuitivität etwas hervorbringen, das Indie-Musik nachhaltig verändern wird.

"Analphabetapolothology" gilt als einer der Grundsteine von Midwestern Emo. Ihr wisst schon, wir befinden uns an diesem Punkt, als etwas namens Emotional Hardcore sich aus dem Punk schält. Sunny Day Real Estate, Rites Of Spring, diese Bands, die Leute nennen, wenn sie sich bei einem ersten Date einem Musikkenner gegenüber wiederfinden und sich genieren, einfach zu sagen, dass sie gerne My Chemical Romance hören. Spaß.

Cap'n Jazz würden nicht über sich sagen, dass sie Midwest Emo sind, sie würden sich komisch-diffuse Punks nennen, die nicht ganz wissen, was sie tun. Trotzdem liefern sie in ihrer kurzen Existenz fundamentale musikalische Ideen, auf denen unter anderem auch der sogenannte Math Rock aufbauen wird. Ihr wisst schon: Grundlos komplexes Genudel, sperrige Texte, Bandnamen wie 'Giraffen aßen meine Hausaufgaben, deswegen weine ich heute am Grab von Barbra Streisand'. Emo-Jazz.

Hört man sich die Gesamtausgabe von Cap'n Jazz auf dieser Compilation an, dann kann man durchaus viele kleine Inspirations-Fadensonnen ziehen, denn es ist eines dieser coolen In-The-Know-Alben. Aber dafür sind wir heute nicht hier. Wenn ich sage, dass "Analphabetapolothology" ein Meilenstein ist, dann vor allem dafür, dass es in dem kurzen, kollabierenden Equilibrium einer Band einen emotional ziemlich einzigartigen Zustand erreicht hat.

Beginnen wir einmal mit den ersten zwölf Tracks: Das ist das eigentliche Debüt- und Abschiedsalbum von Cap'n Jazz. Das hörte 1995 auf den schmissigen Namen (tiefes Einatmen) "Burritos, Inspiration Point, Fork Balloon Sports, Cards in the Spokes, Automatic Biographies, Kites, Kung Fu, Trophies, Banana Peels We've Slipped On, and Egg Shells We've Tippy Toed Over", praktischerweise abgekürzt zum viel besseren Titel "Shmap'n Shmazz". Was uns hier begegnet, das ist verwandter mit Slints "Spiderland" oder dem American Football-Haus als mit den meisten Emo-Alben.

Die Instrumente nudeln vor sich hin, eher abstrakt-verkopft, ein bisschen träumerisch, weit entfernt von all dem Emo-Pathos, den wir heute erwarten würden. "Oh Messy Life" führt schnell diese Bittersüße ein, die den emotionalen Kern des Albums ausmacht. Cap'n Jazz sind gelangweilt, ein bisschen geschafft, vom Leben überfordert und unterfordert gleichzeitig. Protagonist Tim Kinsella kann ziemlich überzeugend gegen den Strom der Instrumente brüllen. Doppelt lustig, weil das, was er brüllt, oft viel sperriger und diffuser als die Instrumente selbst daherkommt.

"I remember her saying / 'This whole world is a waste of my time' / All I could say is / 'I wish I had something to say'", subsummieren sie ihren Ansatz auf dem fantastischen "Puddle Splashers". Es ist schön und erfrischend, wie wenig sie in ihrem Krach darauf Acht geben, zu wirken, als wüssten sie, wovon sie da sprechen. "Analphabetapolothology" spielt viel mit der eigenen Kindlichkeit, immer wieder evoziert das Album Bilder, als hätte man mit fünf auf dem Markt die Eltern verloren und strollere jetzt einfach durch die Gegend, in der blinden Hoffnung, schon bald wieder eingesammelt zu werden.

Und goddamnit, diese Lyrics sind wirklich gut. Fast auf jedem Track findet Kinsella etwas in seiner ziellosen Wortverspieltheit, das total in die Leere und Sinnlosigkeit trifft. "Hey God, I'll pull you outta the sky and make you 14 again / You'll never say another word about blame" heißt es auf "Planet Shhh". "'Time to move on', they say / I'm sorry, but you gotta go / I'm hoping once I'm a big kid and I look down at the ground / It'll seem further away" auf "In The Clear". Oder die ikonischen Einstiegszeilen: "Hey coffee eyes / You got me coughing up my cookie heart". Oder die ikonische Mantra, die mehrmals auftaucht: "You can't look at the sky without looking right through it".

In den Ironie-verseuchten Neunzigern stechen Cap'n Jazz dadurch heraus, dass sie entwaffnend naiv sind. Es ist der Traum einer Band, der eigentlich schon im Moment des Spielens platzt. Es ist dieser leichte Abgesang an den mittleren Westen, wo man Szene mit den Leuten spielen muss, die überhaupt noch da sind. Es ist ein Album, das bis heute durch irgendwelche Jugendzentren mit Indie-Abend hallt, ein Van, der durch irgendwelche Dörfer und Vorstädte fährt, weil der Cousin des einen angeblich irgendwo zwei Stunden Fahrt Richtung Süden so etwas wie einen Gig zu veranstalten glaubt. Und die Musik ist traurig, immer dann am schlimmsten, wenn sie selbst gar nicht zu bemerken scheint, wie traurig sie ist. Cap'n Jazz braucht keinen Pathos, weil sie einfach nur gegen die große, kosmische Verwirrung anschreien. Alles andere passiert von selbst.

Abschließend bleibt eine Frage: Warum dann die Compliation mit dem sperrigen Namen empfehlen und nicht das Album mit dem noch viel sperrigeren Namen? Ja, die ganzen richtig großen Songs sind alle auf "Shmap'n Shmazz" zu finden, trotzdem will ich eigentlich schon, dass ihr euch die volle Lutsche gebt. "Analphabetapolothology" dekliniert alle kreative Madness dieses Projekts über 34 Songs und 100 Minuten bis zur letzten Konsequenz aus. Manche musikalische Tricks kommen in Repetition so bis zur Trance, ein paar Schätze gibt es aber auch so. Das A-Ha-Cover "Take On Me" ist wahrscheinlich der beste Track überhaupt hier, "Sea Tea" hat eine ziemlich einzigartige Textur - und wer schon Spielfilmlänge durchhält, kriegt immerhin noch ein grauenhaft-geniales Weihnachtslied hintenraus gecovert.

Die volle Laufzeit "Analphabetapolothology" mitzumachen bedeutet, komplett in dieses Irrenhaus einzutauchen. Die Kürze macht nicht ganz den gleichen Eindruck. Für eine Band, deren Erbfolge man so lange ausrollen könnte, ist es irgendwie um so beeindruckender zu spüren, dass die größte kreative Achse eindeutig Spontanität war. Diese Tracks kommen nicht aus irgendeiner Herleitung von Punk oder Pop oder was-auch-immer als Konzept. Es sind bekiffte Teenager mit Instrumenten, die sich irgendein formloses, aber definitiv untereinander geteiltes Gefühl von der Seele brüllen müssen. Es reicht von totaler Resignation, ohne ganz zu wissen, vor was eigentlich, bis hin zu besoffenem Gegröle. In einer Zeit, in der diese Ära immer wieder intellektualisiert oder in ihrer Rolle als Konterkultur kaputtgeschrieben wird, ist das Schönste an dieser Compilation zu spüren, wie unkompliziert Weltschmerz sein kann. So wunderschön dumm und hirnlos.

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. Little League
  2. 2. Oh Messy Life
  3. 3. Puddle Splashers
  4. 4. Flashpoint: Catheter
  5. 5. In The Clear
  6. 6. Yes, I Am Talking To You
  7. 7. Basil's Kite
  8. 8. Bluegrassish
  9. 9. Planet Shh
  10. 10. The Sands Have Turned Purple
  11. 11. Precious
  12. 12. Que Suerte!
  13. 13. Take On Me
  14. 14. Tokyo
  15. 15. Ooh Do I Love You
  16. 16. Hey Ma, Do I Hafta Choke On These
  17. 17. Forget Who We Are
  18. 18. Olerud
  19. 19. We Are Scientists!
  20. 20. Sea Tea
  21. 21. Troubled By Insects
  22. 22. Rocky Rococo
  23. 23. In The Clear
  24. 24. Soria
  25. 25. No Use For A Piano Player
  26. 26. Scary Kids Scaring Kids
  27. 27. Bluegrass
  28. 28. Winter Wonderland
  29. 29. Aok
  30. 30. Geheim
  31. 31. Sergio Valente
  32. 32. Easy Driver
  33. 33. Theme To 90120
  34. 34. Ooh Do I Love You

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Nein, 1989 sind die Gebrüder Kinsella bei weitem nicht die einzigen Kids in den USA, die eine Band starten wollen. Inspiriert von Bands wie Fugazi starten …

1 Kommentar mit einer Antwort

  • Vor 6 Stunden

    "Was uns hier begegnet, das ist verwandter mit Slints "Spiderland" oder dem American Football-Haus als mit den meisten Emo-Alben."

    Besagter Tim Kinsella spielt doch auch bei American Football (deren erste LP der noch größere Gründungsmythos für Midwest-Emo war, weil zumindest bis zur Reunion ähnlich kurzlebig wie Cap'n Jazz) oder verwechsel ich da was?

    Unerwarteter aber verdienter Meilenstein