laut.de-Kritik

Auf verschwärmten Ambient-Flächen in die Glückseligkeit.

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Die Versuchung ist groß. Das selbsternannte "hardest working musical genius in showbiz" hält die Fühler ständig in so viele Popbereiche, bricht Guinness-Rekorde und lässt sich Grammy-nominieren, dass man eine neue Platte eigentlich biografisch einbetten möchte. Nur: Bei Jason Beck alias Chilly Gonzales funktionierts nicht recht. Der Kanadier springt zu weit und zu grazil zwischen Genres und von einem Alter Ego zum nächsten. Ambition und Andersartigkeit bleiben die einzigen Direktiven im Leben des Workaholic.

Jetzt also hat er mit Boys Noize ein Konzeptalbum über Schachphilosophie und –praxis produziert. Auf der musikalischen Grundlage "Ivory Tower" basiert außerdem ein gleichnamiger Spielfilm, den Gonzales im Frühjahr in Toronto abgedreht hat. Aber dazu besser mehr an anderer Stelle. Wie der Name Boys Noize erahnen lässt, geht es beim Jazzschach à la Jason Beck beatlastig zur Sache.

Schon die Ouvertüre "Knight Moves" geht gleich in die Vollen, wirft sich samt Klavierloop in die Indietronica-Federn und fließt von der Bassdrum getrieben auf verschwärmten Ambient-Flächen in die Glückseligkeit. Ergreifendes Popmoment in fünf Minuten, geschlagen nur vom eigenen Stall: "Smothered Mate" will Pianodrama, Kraftwerk-Elektronica und walzender Justice-Bratz, "Rocky"-Soundtrack, weitläufige Streicher und Snare-Peitsche, 70er, 80er und 00er, einfach alles auf einmal sein – und schafft das auch. Der Songwriter und sein Produzent setzen hier neue Maßstäbe in Dynamic Range und Dramaturgie.

Seine Stimme bringt der Wahlpariser im Gegensatz zu "Soft Power" nicht mehr melodisch, dafür äußert pointiert ein. Nach wie vor gelingt es niemandem sonst, Rap-Zeilen wie "I'm a movie with no plot written in the backseat of a piss-powered taxi" voller Ernst und Inbrunst vorzutragen, bis aus sardonischem Slapstick existenzialistische Identitätsfindung wird. Natürlich bleibt er dabei stets in character, simple Autobiografie war Gonzales' Sache ja nie.

Zu seinem Kern dringt er auf "Ivory Tower" aber auch auf musikalischer Ebene tiefer vor denn je: Sowohl in den sentimentalen Instrumentals "Bittersuite" und "Final Fantasy" als auch in den Arrangements der verlängerten Interludes "Rococo Chanel" und "Pixel Paxil" kommt seine Jazzpiano-Ausbildung voll durch. Dass Gonzo vor "Solo Piano" überdies im Conscious Hip Hop unterwegs war, zeigt der Solo-Battlerap "The Grudge".

Den Dancefloor wiederum bedient er last not least mit dem perfekt austarierten Discofunk "You Can Dance", in dem Jackson Five, I'm From Barcelona und International Pony ekstatisch abfeiern. Oder auch im dahergeschnipsten Leftfield-Ragtime-Geflirre "Never Stop", das in der Rapversion komplett durchknallt: "Cause it's not Chilly, its Lily, who makes really clever pop"? Köstlich.

Damit stehen Gonzales' Persönlichkeitsfacetten zwischen E- und U-Musik im "Ivory Tower" nebeneinander statt einander im Weg. Er erweitert sich in Richtung Upbeat-Disco und Abstract-Clubbing, ohne darüber Jazz, Klassik, Pop, Funk und Hip Hop vorheriger Veröffentlichungen zu vergessen. Im Soundtrack-Kontext schmiegen sich diese Mitbringsel sanft ins Bild. Bewährte Zutaten in neuer Suppe und Schachmatt in zehn Zügen. Man darf gratulieren.

Trackliste

  1. 1. Knight Moves
  2. 2. I Am Europe
  3. 3. Bittersuite
  4. 4. Smothered Mate
  5. 5. The Grudge
  6. 6. Rococo Chanel
  7. 7. Never Stop
  8. 8. Pixel Paxil
  9. 9. You Can Dance
  10. 10. Final Fantasy

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