Porträt

laut.de-Biographie

Fine Young Cannibals

Wie so oft, beginnt auch dieses Kapitel englischer Innovationen namens Fine Young Cannibals in der Karibik, und die Geburtsgeschichte ist interessanter als die kurze Erfolgs-Story. 1968 erblickt die Musikrichtung Reggae in Jamaika das Licht der Welt. Erster Hit des Genres in Europa wird noch im selben Jahr "Israelites" von Desmond Dekker. Als sich 1980 längst Punk, Reggae und ihre Sprösslinge Dub und Post-Punk miteinander begonnen haben zu vermählen, spielt Dekker seine "Israelites" ebenso wie weitere ältere Hits ("It Mek" usw.) unter dem Albumtitel "Black And Dekker" neu ein. Am Tenorsaxophon sorgt ein Typ namens Roland Lee Gift für die nötige Ska-Verwurzelung und singt Background - ein erstes Warmlaufen für seine Karriere als Fine Young Cannibal.

Fine Young Cannibals - The Raw & The Cooked
Fine Young Cannibals The Raw & The Cooked
Emotionales aus der Plastik-Ära, liebevoll zubereitet.
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Zwei Freunde von ihm, Nik Townend und Woyciech Piotr Swiderski, mischen ebenfalls mit, an Schlagzeug und Gitarre. Zusammen sind sie die eine Hälfte einer Gruppe. Sie hört auf den sperrigen Namen Akrylykz (oder anfangs The Akrylykz Vyktymz). Die Band hat sich im November 1978 in Kingston Upon Hull an Englands Nordseeküste gegründet. Das Sextett erwirbt sich einen Ruf als Stimmung machende Vorgruppe für die Ska- und Reggae-affine Szene im UK: Madness, The Specials, The Clash. Die Akrylykz setzen sich mehrheitlich aus Kunststudenten zusammen, die mit Acryl hantieren. Drei studieren Malerei, einer Grafikdesign, einer Skulpturen-Bildnerei. Drummer Woyciech Piotr hat polnische Wurzeln, und so versucht sich die Gruppe bewusst an einem Namen, der polnisch ausschaut. Nur einer in diesem Ensemble führt keinen akademischen Lifestyle, Roland, der aus der Working Class von Birmingham stammt.

Im Zuge der Two Tone-Welle adaptieren viele Gruppen genau so wie die Akrylykz den jamaikanischen Ska der 1960er, ihr Vorbild heißt meist Prince Buster. Fast alle Gruppen eint, dass sie nur wenige Songs aufnehmen, zwar oft mit eigenen Kompositionen und sogar mit ziemlich guten, es jedoch nie bis zu einem Longplayer bringen. So ist es auch bei The Akrylykz, die immerhin genug Material für eine Testpressung haben und überregional bekannte Titel wie "Ska'd For Life" und "Spiderman" im Set führen. Mit mehreren Interviews gelingt ihnen Coverage in Fachblättern wie dem New Musical Express. Eine Band, die es jedoch auf drei veritable LPs bringt, sind The (English) Beat, ebenfalls ein Sextett, mit Andy Cox und David Steele an Gitarre und Schlagzeug, Keyboards, Bass, später bekannt als Produzenten-Duo Cox & Steele. Das Besondere der Gruppe ist, dass sie einen Raggamuffin-Toaster haben, der Sprechgesang auf die Saxophon-Sounds legt. The Beat halten ähnlich wie fast alle Bands dieser Welle nur ein paar Jahre.

Sie splittern sich in mehrere Formationen auf: The International Beat, Two Nations, General Public und eben Fine Young Cannibals. Cox und Steele lernen Roland Gift von den Akrylykz bei Gigs kennen, als die Kunststudenten Support für The English Beat jammen. Obwohl sie ihn bereits flüchtig kennen, hören sie sich noch um die 500 Demo-Tapes mit Bewerbungen von Sängern an, bis sie sich für ihn entscheiden. Steele, der eine Ausbildung zum Psychiatrie-Krankenpfleger durchläuft, Cox und Bauarbeiter Gift gründen das Trio Fine Young Cannibals dann in Birmingham, der Legende nach in einem Pub - so schreibt es das Streaming-Portal Deezer. Das Trio entwendet den Namen dafür einem Spielfilm von 1960, "All The Fine Young Cannibals", ein US-Südstaaten-Drama um einen Jazzmusiker, angelehnt ans Leben Chet Bakers.

Am 9. Dezember 1985 erscheint ihr gleichnamiges (self-titled) Debüt. Der Hit "Johnny Come Home" markiert bereits eines der Charakteristika: Roland Gift trällert im Falsett. Als live-aktive Band konzipiert, verträgt sich sein Saxophon-Spiel nicht mit dem Singen, und so engagiert das Trio für Brass-Passagen Session-Gäste. Obwohl die Cannibals einen starken Multiinstrumentalisten als Schlagzeuger haben, experimentieren sie mit zeitgeisttypischer Drum-Machine. Sie ist der Hauptgrund, weswegen sich der Sound der FYC rückblickend unschwer in den Achtzigern verorten lässt. Offizielle Remixes mit einer Fülle an Overdubs verfestigen diesen Eindruck.

Gleichwohl bedient sich die Band ganz bewusst stilistischer Zutaten der Fünfziger, Sechziger und Siebziger. Und die Musik-Journaille gibt den munter die Top Ten stürmenden Newcomern eine Chance und zeigt sich beeindruckt vom Handwerk und von Roland Lee Gifts Stimme.

Die Kritikerin des Spin-Magazins lobt die "inlays and wrap-arounds" von Gifts Stimme, "entlang der mehr als kompetenten instrumentalen Arbeit." - Filmaffin, wie schon die Wahl des Bandnamens war, kommen die Fine Young Cannibals 1986 für einen Vorboten ihrer nächsten LP mit dem Filmemacher Jonathan Demme in Kontakt. Ihm wird in der Alternative-Musikszene große Verehrung für seinen authentischen Konzertfilm "Stop Making Sense" mit den Talking Heads zuteil, er hat mehrmals seine Musikkompetenz bewiesen, und er ist ein Meister des rhythmischen Schnitts von Musik und Bild. In seinem Film "Something Wild", der Parodie auf den Lifestyle eines Investment-Bankers im Zuge der damaligen Punk-Kritik an Yuppies (Young Urban Professionals), integriert Demme eine skurrile Szenenfolge, die dann zum Videoclip von "Ever Fallen In Love" wird.

Ansonsten herrscht nach dem FYC-Debüt jedoch recht wenig gemeinsame Aktivität. Cox und Steele beleben mit einem House-Instrumental die Charts, in denen gesangslose Stücke ja selten reüssieren. Gift schnuppert parallel Schauspiel-Luft. Einigen können sich die drei Kannibalen vor allem auf einen Punkt: Auf ihrer nächsten Scheibe wollen sie gerne so klingen wie Prince. In dieser Zeit, der "Sign O The Times"-Phase, setzt er heftig auf Drum-Machines. Am liebsten hätten sie Prince als Produzenten. Doch das erscheint utopisch. Ein enger Mitarbeiter aus dessen Anfangstagen ist David Z. Er hat Zugang zum Paisley Park, kann dort ein Studio mieten. Zu ihm nimmt die Plattenfirma Kontakt auf.

 - Aktuelles Interview
Fine Young Cannibals "Wir konnten mit dem selbst entfachten Feuer nicht umgehen"
Roland Gift über die FYC-Story, die Bürde des Erfolgs, das Älterwerden, Fehler, Ska und Thatcher.

Er wohnt und arbeitet in Minneapolis. Getreu dem Motto 'Wenn der Prophet nicht zum Berg kommt, muss der Berg zum Propheten kommen', machen London Records den drei jungen Musikern klar: David wird Minneapolis für die Aufnahme nicht verlassen, sie müssen dafür in den Flieger steigen. Dem Label ist diese Wendung auch ganz recht. Man wartet schon geraume Zeit auf Aufnahmen für ein zweites Album, der Prince-Toningenieur soll den Cannibals in den Hintern treten. Ganz so einfach ist die Geburt des gemeinsamen Tracks "She Drives Me Crazy" dann jedoch nicht, sondern erfordert mehrmaliges Nachstochern und Hin- und Her-Versand von Tonbändern über den Atlantik, im Nachgang des Besuchs.

Doch die Mühen lohnen sich. Denn stellenweise meint man wirklich, Mister Purple Rain zu hören. Das ruft jedoch bald nach der Veröffentlichung Nachahmer hervor, die Bausteine aus "She Drives Me Crazy" verwursten. Mit den juristischen Grenzen zwischen Inspiration, Plagiat, Zitat, Kopie, Sample, Interpolation und zufälliger Ähnlichkeit kennt sich der Beatmaker nicht so aus. Als er einen UK-Werbespot eines großen globalen Limonadenherstellers sieht und vor allem hört, juckt es ihn aber in den Fingern, den Klageweg zu beschreiten. Denn sein Snare Drum-Pattern, vollbracht auf einem Linn 9000-Synthesizer, klingt fataler Weise genau so.

Im Magazin Mix Online führt er aus: "Die Rechtmäßigkeit von Sampling war noch ungeklärt. Keiner war sich sicher, ob man für einen Beat oder einen Groove ein Copyright beanspruchen kann. Ich bin mir da immer noch nicht sicher. Alles, was ich weiß, ist: Ich ging zu meinem Rechtsanwalt (...), und er sagte: 'Was willst du dagegen tun? Pepsi hat eine Menge Geld und viele Anwälte.' (...) Aber es war auch so einfach zu stehlen - der Song beginnt mit nichts außer dem Groove, also musste niemand viel schneiden oder auf der Tonspur säubern, um diese Stelle zu sampeln."

Die Entertainment-Branche erweist sich als kannibalisch. Statt die Urheber der attraktiven Aufnahme zu unterstützen, damit sie noch mehr solch toller Sample-Quellen erschaffen, lassen sowohl Musikkollegen als auch Werbeagenturen die Ideengeber leer ausgehen. Die Fine Young Cannibals trennen sich aber nicht deswegen, sondern unter dem Druck, bald wieder Hits mit den Verkaufszahlen von "The Raw & The Cooked" abliefern zu müssen. Woher sie diese nehmen sollen, da haben sie keine Einfälle - und sie wollen es auch nicht.

Eine Solo-Karriere mit dem Solo-Album "Roland Gift" floppt lange später, Anfang 2002 - nicht nur, weil das Label MCA pleite geht, wo es denn eines der letzten erscheinenden Alben ist: Gift gibt zu, keine Visionen für seine künstlerische Laufbahn gehabt zu haben. Die weiteren Versuche mit anderen Bands entwickeln sich bei den beiden Kollegen Cox und Steele, die getrennte Wege gehen, als Dümpeln im Underground - mit großen zeitlichen Lücken. Einige Jahre verbringt Steele als Auswanderer in New Orleans. Phasenweise scheinen alle drei Musiker verschollen.

Anfang der 2020er meldet sich Frontmann Roland Gift mit einer Musical-Produktion und einem BBC-Hörspiel zurück. Im Dezember 2025 stehen der 40. Geburtstag des Debüts "Fine Young Cannibals" und der 35. des letzten Albums "The Raw & The Remix" an. Aus diesem Anlass erscheinen diverse Ausführungen von "FYC 40", im umfangreichsten Format mit 66 remasterten Audio-Tracks und einer DVD inklusive Konzertaufnahmen. Die Veröffentlichung enthält eine beträchtliche Zahl an Remixes, unter anderen von Dimitri From Paris und Frankie Knuckles. Wie bereits einmal im Jahr 2017, soll es auch 2026 eine Tour mit Roland Gift als 'Fine Young Cannibals' geben. Zugleich versucht er sich wieder als Solist zu etablieren.

Interviews

Alben

Surftipps

  • FYC auf Facebook

    Social Network, ohne Kontakt zu den Bandmitgliedern.

    https://www.facebook.com/FineYoungCannibals
  • FYC auf Bandcamp

    Alte Aufnahmen - remastered. Plus Tourdaten.

    https://fineyoungcannibals.bandcamp.com
  • FYC auf Instagram

    Soziale Medien stehen auch Kannibalen offen. Account der Plattenfirma.

    https://www.instagram.com/fineyoungcannibals
  • FYC-Webpage

    Grafikdesign mit dem Charme einer Autobahn-Tankstelle.

    https://www.fineyoungcannibals.net
  • Offizielle Videos auf YouTube

    Alle Songs, zu denen die Band Clips gemacht hat.

    https://youtube.com/playlist?list=PL1xm0HhIaKcGiReyiBiy7iYcdogLlJ9l1&si=91Qse9gkVOAzDZzJ
  • Sänger Roland Gift auf Facebook

    Retro-aktiv.

    https://www.facebook.com/RolandGift.Tour

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