laut.de-Kritik

Emotionales aus der Plastik-Ära, liebevoll zubereitet.

Review von

Die Fine Young Cannibals füllten ein eigenes Mikro-Genre aus, in dem es bis heute keinen zweiten Vertreter gab. Das Trio aus Birmingham nahm formal die Acid-Jazz-Welle vorweg, ließ seine Songs jedoch auf Eighties-untypischen Garage-Rock-Riffs und knallenden Metronom-Drums aufbauen. Der Gesang von Frontmann Roland Gift schlängelte sich mal im Falsett, mal in exaltierter Doo-Wop-Alt-Stimmlage zwischen Boy George und Bronski Beat hindurch. Der Bandname war ähnlich gut und unique wie später Fun Lovin' Criminals, und ähnlich wie diese zeigten sich die FYC Saxophonen und Laid-Back-Beats gegenüber sehr aufgeschlossen. An einer Einordnung kann man sich die Zähne ausbeißen.

Ihr Longplayer "The Raw & The Cooked" war der zweite von zweien im Rahmen einer leider kurzen Karriere. Am prägnantesten blieb einer breiten Öffentlichkeit wohl die Hookline des Openers "She Drives Me Crazy" haften. Lange hatte ich diese Band im Visier für unsere Meilenstein-Rubrik, weil ich grundsätzlich auf Stilfusionen stehe, das Angejazzte der Gruppe beim allerersten Hören sofort liebte, ihren smarten Offbeat immer cool fand. Die berührenden Vocals frästen sich tief in mein Unterbewusstsein, und die schnell vereinnahmenden Melodien entzückten mich - ohne dass ich über die Cannibals je irgend etwas Sinnvolles in Erfahrung bringen konnte.

Ursprünglich fielen mir in einem französischen Second Hand-Shop "The Raw & The Cooked" so wie eine Remix-CD der Combo in die Hände, in den 2000er Jahren. Dort hatten die Briten auch besonders gute Verkaufszahlen. Bis zu diesem Moment kannte ich nur die ein oder andere Single, aber beispielsweise nicht die liebreizende Ska- und Soul-unterspülte Midtempo-Ballade "Tell Me What" mit Backing Vocals in New Yorker 50er-Jahre-Doo Wop-Stil.

Alle paar Sekunden passiert irgend etwas auf dieser Platte, was süß, smart, süchtig machend, speziell, gleichzeitig hartkantig und crémig-soft ist. Die Stimmung der Scheibe ist vordergründig frisch-fröhlich, untergründig durch die Mellowness der Harmonien melancholisch. Es gibt recht widerspenstige Momente, darunter das Funkrock-Riff in "It's OK" bei Minute 2:15, inmitten treibender, beharrlicher, 'dschungeliger' Beats, mit "Let's Dance" von Bowie und Rodgers scheinbar verwandt. Andererseits trifft man auf herzerweichenden Northern Soul wie das selbstzweifelnde "I'm Not The Man I Used To Be".

Jive-Anwandlung in "Good Thing" wechselt mit köchelnder Warehouse-Elektronik samt Bläser-Solo und Glitch-Momenten im sportlichen "Don't Let It Get You Down". Immer pumpt Roland viel Persönlichkeit in seinen gesanglichen Ausdruck wie ein Schauspieler. Alle Stücke haben etwas Echtes, Emotionales, obschon sie in einem Plastikpop-Zeitgeist entstanden und Sequencing nutzen.

Jeder Song greift auf Bezugspunkte in mehreren Genres zurück, und keine Genre-Kreuzung tritt doppelt auf oder wiederholt sich. Somit wird jeder Track zu einem besonderen Unikat. "The Raw & The Cooked" zählt zu den Longplayern in dieser Rubrik, auf die uns letztlich nicht ein bestimmter Song brachte, sondern die Gesamtheit. Alle diese tollen Stücke haben sich ihre Einzigartigkeit bewahrt.

"As Hard As It Is" wälzt sich im Schmalz einer Teenpop-Romanze von ungefähr 1960 und lässt den Sänger in eine Art Bariton-Level switchen. "Ever Fallen In Love" verhandelt die Ambivalenz von Euphorie, Endorphin-Überschuss, Kontrollverlust, Verwirrtheit und Schmerz des Verliebtseins in einem Disco-Calypso-Rahmen mit Anspielungen auf Hip Hop-Breakbeats- und Scratches und mit einer latenten Spur Philadelphia-Soul. Was kaum auffällt: "Ever Fallen In Love" war einmal eines der Markenzeichen der Post-Punk-Band Buzzcocks. Das Cover klingt denkbar weit entfernt. Hier legte Jerry Harrison, ehemals Talking Heads, Hand an. Das FYC-Kult-Video zeigt die drei tanzenden Cannibals mit Papiermülltüten auf dem Kopf und in sackartiger Kleidung. Sie schauen aus wie eine Mischung aus Ku-Klux-Klan-Mitgliedern, Astronauten und Mitarbeitern eines Atomkraftwerks.

Der vierfache Clou des Clips ist ein Film-im-Film-Effekt, da er großenteils in einem Kinosaal spielt und das Publikum filmt, dann der Gag, dass die meisten Bewegungen vor- und rückwärts, fast forward oder gegen die Schwerkraft gezeigt werden, dann, dass die Wechsel zwischen Kamera-Perspektiven und der rhythmische Zusammenschnitt perfekt und gepfeffert wirken, und schließlich einige per se skurrile Motive, Requisiten und abstrus-mechanische Bewegungsabfolgen. Das alles unterstreicht die Stimmung des Tunes kontraintuitiv und trotzdem passend. Der Regisseur des Kurzfilms war der legendäre Jonathan Demme, für den Film zu "Stop Making Sense" weltbekannt. Das Video wäre aber kaum etwas wert ohne den zeitlos klasse abgemischten Sound, der auf geschickte Weise krachledern scheppernd sowie warm und satt daher kommt. Stilistisch fügt sich der Track am ehesten in das ein, was INXS (zum Beispiel in "Mystify") in jener Zeit veranstalteten.

In dieses Horn stieß auch das Intro von "She Drives Me Crazy": Die ersten sechs Sekunden lassen kurz glauben, es käme ein Stück von INXS, phasenweise könnte es dann Prince sein. Die Hookline biegt danach unerwartet ab und liefert einen Smash-Banger. Fun Fact: Es existiert sogar eine deutsche Version, von den Teenage Mutant Ninja Turtles: "Ich Heiß Nicht Häsi". "I'm Not Satisfied" greift dem späteren Tropical-Dance-Soul von M People vor. Eine Ko-Sängerin, Jenny Jones, erhöht die Dynamik der Nummer, die auch von Loops mit dem unbedingten Willen zur Tanzbarkeit lebt. "Don't Look Back" fremdelt unerwartet mit New Wave, Mod, Hardrock und Phil Collins.

Vieles auf "The Raw & The Cooked" spielt sich mit so viel Understatement ab, dass man heute 'nonchalant' dazu sagen würde. Die Fine Young Cannibals hatten ihren Dreh raus und machten dabei rhythmisch vertrackte Sachen ohne Blueprints, wie "Good Thing", nur echt mit zwei Mal Klatschen nach den Worten "Good Thing". Der Song offenbart eine sehr freie Auslegung von Motown. Ihre vielen Ideen, Ebenen, kurzphasig eingesetzten Klaviere, E-Pianos, Blechbläser, Scratches und stilistischen Zutaten pressten sie kompakt in schlanke Songs, die zumeist dem typischen Drei-Minuten-30-Format angehören und in einer Abblende enden. Bei ihnen funktioniert dieser Spin, weil sie mit jedem nächsten Track gleich wieder einen drauf setzen, etwas Andersartiges bringen und "The Raw & The Cooked" insgesamt als lebendige und ausgewogene Platte voller Yin und Yang aufzogen.

Für den Albumtitels bedienten sich die Musiker beim belgisch-französischen Ethnologen und Tropenforscher Claude Lévi-Strauss, der zu dieser Zeit noch lebte und einmal ein Buch namens "The Raw And The Cooked" heraus gebracht hatte. Ob Lévi-Strauss, bei Erscheinen der LP 80 Jahre alt, sie je hörte, ist nicht überliefert. Jedenfalls ist es ein fundamentales Buch der strukturalistischen Strömung, die Mitte des 20. Jahrhunderts Literatur- und Sozialwissenschaften und Architektur durchwanderte und prägte.

Dabei machen die Fine Young Cannibals je einer grundlegenden Idee des Buches und des Strukturalismus alle Ehre, nämlich dass unsere Zivilisation auf binären Gegensätzen (roh - gekocht, scharf - mild, hart - weich, schwarz - weiß usw.) fußt und dass eine Kombination oft mehr als die Summe ihrer Teile ist, sondern eine neue Gesamtheit. Die Cannibals lebten also einen Sinn für schillernde Widersprüche innerhalb ihrer Lieder und zwischen den Tracks des Albums aus, und sie töpferten aus vielen Klumpen neue, unzerbrechliche Gefäße für ihre unscheinbaren, aber doch universellen und netten Texte. Übrigens - kleines Detail - schrieb man auf die A-Seite des Vinyls "Raw" und auf die B-Seite "Cooked".

Es hat ewig gedauert, bis ich diese Platte hier nun offiziell weiter empfehle. Lange lagen keine brauchbaren, digitalisierten Fotos vor, und kaum Infos aus erster Hand. Doch im Zuge einer Wiederveröffentlichung zum Jubiläum des Debüts tauchten nun Bilder sowie Sänger Roland Gift in Person auf, und er vermittelte mir einen Eindruck von der viel zu kurzen Geschichte dieser Gruppe.

Nach dem Ende der Fine Young Cannibals setzte sich ein paar Jahre lang der Acid-Jazz in ihrer Heimat England durch, der ein bisschen vom Feeling der Band weiter führte. "The Raw & The Cooked" bleibt ein einmaliger Peak an Kreativität, mit einer Dichte an eingängigen Nummern und qualitativer Konsistenz, wie andere sie für Greatest Hits-Alben nicht hinbekämen. Jede:r Musikkritiker:in hört bezeichnender Weise etwas anderes pro Song heraus. Immerhin gaben die Gruppe und Ko-Produzent David Z Rätsel beim Einordnen auf. Pauline Black, die mit ihrer Band The Selecter hier schon eine Meilenstein-Würdigung erfuhr, sagt über "The Raw & The Cooked", es habe sie zu einer Zeit, 1989, als sie aus dem Musikbiz bereits frustriert ausgestiegen war, zurück geholt. Positiv davon getriggert kehrte sie zurück.

Denn diese Platte habe ihr vor Ohren geführt, wofür es sich lohne zu musizieren. Im Magazin The Quietus nennt Pauline ihre Gründe und nimmt dabei Bezug auf FYC-Gitarrist Andy Cox: "Als ich das Album hörte, wünschte ich, dass ich selbst es gemacht hätte. Sie probierten mit Tamla und Soul herum und erschufen daraus ihren eigenen Sound. Andy Cox sagte, da seien 30 Jahre Popmusik in 30 Minuten kondensiert (...) Es erneuerte meinen Glauben an die Musik."

Es ist ein Werk für die Nacht, gleichermaßen eines für gute Laune und Elan am Morgen. Und es ist eine Pflicht-Platte der Achtziger für alle, die über dieses Musikjahrzehnt differenziert mitreden und auch eine zu Unrecht vergessene Gruppe dabei auf dem Radar behalten wollen.

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. She Drives Me Crazy
  2. 2. Good Thing
  3. 3. I'm Not The Man I Used To Be
  4. 4. I'm Not Satisfied
  5. 5. Tell Me What
  6. 6. Don't Look Back
  7. 7. It's OK
  8. 8. Don't Let It Get You Down
  9. 9. As Hard As It Is
  10. 10. Ever Fallen In Love

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