laut.de-Kritik
UK Drill-Antithese mit FKA Twigs und Jamie xx.
Review von Mirco LeierDrei Mal wanderte Headie One wegen Drogen- und Waffenbesitz schon hinter schwedische Gardinen: Er ist das Paradebeispiel eines von den Medien zum Gang-Lord stilisierten Drill-Rappers. Die Presse machte große Teile seine bisherigen Diskographie gar für die steigende Bandenkriminalität in Englands Hauptstadt mitverantwortlich - und damit auch für viele der 50 daraus resultierenden Todesfälle im vergangenen Jahr.
So würde man jedoch die Augen vor dem eigentlichen Problem verschließen, wehrte sich so Headie gegenüber One Sky News. Die Verantwortlichen würden weiterhin ignorieren, dass die wachsende Gewalt nicht etwa auf Musik, sondern auf die weitverbreitete Perspektivlosigkeit unter Londons Black Youth zurückzuführen sei, fügte der Rapper Guvna B hinzu.
Betrachtet man diese Umstände wirkt der Titel von Headies viertem Mixtape fast schon wie eine Kriegserklärung. "Gang" prangt in All Caps über einer fast uniform schwarz gekleideten Menschenmenge. Bei genauerem Hinsehen entpuppt sich das Gemenge jedoch als weitaus diverser und weniger bedrohlich, als man auf den ersten Blick annehmen mag. Das Video des Titeltracks stellt die einzelnen Persönlichkeiten sogar noch ein wenig genauer vor: Es sind lachende Kinder, Rentner, Fußballfans und Polizisten. "Grew together tried to think we're a gang / Now they talkin' drill and trap and then they think of the gang", singt Headie in der Hook.
Nein, "Gang" ist keine Kampfansage, keine Drohung. Es ist vielmehr ein Schlichtungsversuch, eine Art Antithese zum öffentlich negativ konnotierten Gang-Image. Mit Fokus auf Loyalität und Bruderschaft scheint der Londoner Rapper ein melancholisches und vor allem ehrliches Licht auf seine oftmals weniger schöne Realität zu werfen, fernab von jeglicher Gangster-Stereotype. Das drückt sich nicht nur in den Lyricy aus, auch die unorthodoxe Produktion spiegel dies wider. Fred again..s Sounddesign kommt einem fetten Mittelfinger gen sämtlicher, etablierter Drill-Trademarks gleich. Autotune, Vocal-Pitching und sogar vermehrte Einflüsse aus UK Bass finden ihren Weg in das Klanggerüst und drehen das komplette musikalische Korsett des Subgenre auf links.
Auf "Charades", dem wohl größten Standout, stellt Headie sowohl sein Talent als Rapper als auch sein außerordentliches Gespür für schwermütige Melodien unter Beweis: eine brillante Reflektion über den Spagat zwischen dem Leben auf der Straße und dem Erfolg in der Musikindustrie, zwischen Realness und Verletzlichkeit.
Oftmals klingt der Londoner als würde er ertrinken. Nicht nur im metaphorischen Meer aus Gewalt und Korruption, das ihn umgibt, sondern auch im wortwörtlichen Sinne. Seine durch Autotune verzerrte Stimme klingt auf "Gang" oder "Told" bisweilen wirklich als würden sich seine Lungen mit Wasser füllen. Das wirkt befremdlich, fügt sich nach mehreren Durchläufen aber perfekt in das verletzlich wirkende Gesamtbild ein. So ist es auch kein Wunder, dass manche Passagen, wie das Outro des Titeltracks oder die "Judge Me"-Interlude, eher mit dem Sound eines Frank Oceans oder eben der gefeatureten FKA Twigs flirten als mit klassischem Hip Hop.
FKA Twigs attestiert ebenso wie die restlichen international profilierten Features den hohen Stellenwert in der Drill-Szene, den sich der hierzulande quasi unbekannte Headie binnen weniger Jahre erarbeitet hat. Dabei sind auch Sampha oder Jamie xx weniger eine Zurschaustellung dieses Erfolgs und tatsächlich essenzielle Bestandteile für den Flow des Mixtapes. Sie nuancieren den oft etwas monotonen Sound. Jamie injiziert auf "Smoke" ordentlich Bass und lässt Headie grazil um ihn herumtänzeln, während Sampha auf dem Closer "Soldiers" dem optimistischen und nostalgischen Inhalt mit himmlischer Stimme Nachdruck verleiht.
Auch Slowthais Vocalsample auf "Tyron (Interlude)" sorgt in der Art und Weise, wie es Produzent Fred Again.. zwischen Piano-Melodien und interpolierten Lyrics einwebt und verzerrt für Gänsehaut. "How many men have the gangdem got?" fragt Headie erneut. Auf "Charades" wirkte die Frage rhetorisch, bedrohlich und protzig, jetzt eher wie ein trauriges Bewusstwerden.
"Gang" ist ein weiterer Beweis für die wahre Natur der Drill-Musik. Headies Viertling gewährt einen Einblick in die Abgründe und Tragik, die hinter all der Aggression und plakativ vorgetragenen Männlichkeit dieses Subgenres lauern. Wer dafür weitere Beispiele sucht, werfe einen Blick auf die Lebensgeschichte des amerikanischen Chef-Drillers Chief Keef.
Doch auch abseits von Chicago trägt dieser Lebensstil unschöne Früchte. Im Januar 2020 wanderte Headie One ein weiteres Mal hinter Gitter. Auch wenn er reflektiert und eine andere Perspektive bietet, bleibt er in der Realität seinen Wurzeln treu. Dort stoßen seine musikalischen Schlichtungsversuche eben nach wie vor auf taube Ohren.
4 Kommentare
Schöne Review zu einer wirklich guten EP. Fand den Vorgänger schon ziemlich stark, aber das hier ist - vielleicht auch aufgrund der kurzen Spielzeit - noch deutlich kohärenter.
Erinnert vom Vibe an ein Hoodies All Summer eines 25 Jährigen.
Taugt, finde vor allem dem Opener bärenstark.
Starke EP. Fand die Feature Auswahl sehr fresh. War sehr cool mal wieder Samphas unverwechselbare Stimme zu hören. Charades ist auf jeden Fall in der Heavy Rotation
Das ist wirklich unfassbar gut.