laut.de-Kritik

Aber hier leben, nein danke.

Review von

Glückwunsch. Heinz Rudolf Kunze befindet sich auf dem besten Weg zu einer multiplen Persönlichkeit. Auf der einen Seite bringt er unter dem Deckmantel seiner Band Räuberzivil gute Alben heraus, die in der Öffentlichkeit keine Beachtung finden. Auf der anderen Seite veröffentlicht er unter seinem regulären Namen seit Jahren langweilige Alben, die in der Öffentlichkeit keine Beachtung finden. Mit "Deutschland" versucht er nun ein weiteres Mal, die Balance zwischen den beiden Projekten zu finden, bevor er Abends eine Pizza für den Heinz Rudolf und eine für den Herrn Kunze von Räuberzivil bestellt.

Verrückterweise begann das Problem mit dem neuen Werk des Haltungs-Barden bereits vor einem Jahr auf Räuberzivils "Tiefenschärfe". In einem Land vor unserer Zeit, einige Monate, bevor an Pegida nur zu denken war, schrieb Kunze als provokantes Gegenstück zum Opener "Robert Limpert" "Willkommen Liebe Mörder". Bewusst scharf formuliert und von Max Frischs "Biedermann und die Brandstifter" inspiriert geht diese zündelnde Abrechnung mit dem Gutmenschentum nun als zynische Hymne für Petry, Höcke und von Storch durch. "Willkommen liebe Mörder / Fühlt euch wie zuhause / ... / Nichts nehmen wir euch übel / Empörung nicht die Spur / Ihr habt halt eine andere Umbringekultur."

Über ein halbes Jahr dauerte es, bis Pegida-Anhänger, AfD-Wähler und Wutbürger das Stück für sich entdeckten und den Sänger als einen der ihren feierten. Endlich einer, der unmissverständlich ihre Stellung bezieht. Einer, der zu diesem Zeitpunkt bereits sein neues Album mit dem glorreichen Titel "Deutschland" angekündigt hatte. Sie haben ihn auf Teufel komm raus geliebt, dann kam er, und sie wussten nicht mehr weiter.

Anstatt sich von dem Stück zu distanzieren oder einfach zuzugeben, zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort gewesen zu sein, polterte Kunze auf seinem Facebook-Account los: "Gemeint und auf ironische Weise angesprochen sind die Mörder der NSU. ... Ich verbitte mir jede dem Geist dieses Songs widersprechende Vereinnahmung und Anbiederung, zumal von rechts." Weder die damalige Presseinfo, noch der Songtext mit Zeilen wie "Sie pflegen fremde Bräuche" lassen die NSU-Interpretation überhaupt zu. Nun folgt also ausgerechnet "Deutschland", dessen Rücken eine Gitarre in Deutschlandform ziert und dessen Promo-CD ein Deutschland-förmiger Plätzchenausstecher beiliegt. Der Meister im Fettnäpfchendreisprung hat wieder zugeschlagen.

Dabei lässt sich Kunze als "Vertriebener", der "in einer Baracke im Flüchtlingslager Espelkamp" geboren wurde und der sich seit seinem Debüt "Reine Nervensache" ("Balkonfrühstück") wie kein anderer an seinem Heimatland und dessen Geschichte abarbeitete, recht einfach zuordnen. Womit wir auch schon zum nächsten Problem des neuen Longplayers kommen. Auch wenn der selbsternannte "rockende Dichter & Denker" versucht als Provokateur aufzutreten, hat er nach 35 Jahren schlichtweg schon alles zu dem Thema gesagt und bedient altbekannte Allgemeinschauplätze. Anstatt anzuecken und so den Boden für neue Ideen zu bereiten, verliert er sich im Klischeewirrwarr. Er scheitert an seinen eigenen Ansprüchen.

Ein gutes Beispiel hierfür bietet "Jeder Bete Für Sich Allein". Da ist Kunze im Internet wohl über das alte "Religion is like a penis. It's a fine thing to have one and to be proud of it, but please, don't take it out and wave it around it public"-Bild gestolpert. Kurz nachdem er über das niesende Pandababy gelacht hat. Leider hat er daraus einen monotonen Rocker fabriziert und verkauft uns diesen Gedanken nun als Ei des Kolumbus. Für jemanden, der sich selbst als großen Denker sieht, der mit dem Lied für "reichlich Diskussionsstoff und Reflexion" sorgen möchte, schlichtweg zu wenig.

Der eröffnende Blues "Es Ist In Ihm Drin" wirkt so authentisch wie Ottos "Schwamm-Drüber-Blues". Der durchschnittliche Kunze-Fan dürfte sich an "Ottocolor" erinnern. Passenderweise begeht er in "Die Letzten Unserer Art" den Fehler, die eigene Jugend zu glorifizieren, während er der heutigen die Rebellion abspricht. Deutlich leidet er am Alt-Herren-Phänomen, auch bekannt als Früher-War-Alles-Besser-Syndrom.

Der Titeltrack "Deutschland" funkt wie der Bart von Klaus Lage. Kunzes Bundesrepublik muffelt auch 2016 noch nach Kohl. Endgültig klebt er ohne Luft zu holen einen Stereotyp an den nächsten. Ein 'Vagnis' über das dritte Reich, Autos, den Osten, den Westen, die Waffenexporte und so viel mehr. "Jeder gute Deutsche hat sich an dir gerieben / Denn so einfach ist es nicht / Dieses Land zu lieben."

Die schrecklich aufdringliche Pop-Nummer "Das Paradies Ist Hier" erinnert uns mit Ellbogen voran noch einmal daran, wie schön wir es trotz globaler Probleme in unserem Hier und Jetzt in "Deutschland" haben. In "Mund-Zu-Mund-Beatmung", das sich berechnend an Carmen Nebels Stampfschlager-Publikum wendet, erhält das Album noch einmal aktuelle Brisanz. "Ich brauche keine Spritze / Ich brauch' kein Stethoskop" singt HRK. "Lassen sie den Arzt jetzt durch / Ich weiß was diese Frau hier wirklich braucht / Und das ist Mund-Zu-Mund-Beatmung / Dann hört die Ohnmacht auf." Wo sind die Schreie nach einer Armlänge Abstand, wenn man sie wirklich braucht?

Doch selbst auf den schlechtesten Kunze-Alben, "Stein Vom Herzen" ausgenommen, entdeckt man beim genauen Hinsehen kleine Hoffnungsschimmer. Manchmal sogar unverhoffte Perlen. Diesmal finden sich diese je weiter sich der Sänger von "Deutschland" entfernt. In den stillen Stücken wie "Ein Fauler Trick" oder "Setz Dich Her", eine Art "Leg Nicht Auf" 2.0.

Mit "In Der Alten Piccardie" schließt HRK sogar noch einmal an seine besten Tage an. Ein charmantes und sentimentales Prequel zu "Brille", das von seinen ersten zwei Jahren an der Schule an der niederländischen Grenze erzählt. Eine nostalgische und autobiografische Erinnerung an die Kindheit und letztendlich die sich daraus ergebene Aufbruchstimmung. Das elegant arrangierte Stück wirft einen deutlichen Seitenblick auf George Harrison. Über all dem schwebt die Frage, warum Kunze so selten in dieser hohen Qualität liefert.

Stattdessen bleibt er auf "Deutschland" ein weiteres Mal undefiniert, schluderig und läuft seinen eigenen Ansprüchen kilometerweit hinterher. Letztendlich bleibt nichts anderes übrig, als auf das nächste Räuberzivil-Album zu hoffen. Bis dahin back ich mir ein paar auf dem Kopf stehende Deutschlandplätzchen mit schwarzer Glasur. Evil.

Trackliste

  1. 1. Es Ist In Ihm Drin
  2. 2. Zu Früh Für Den Regen
  3. 3. In Der Alten Piccardie
  4. 4. Nur Eine Fotographie
  5. 5. Das Paradies Ist Hier
  6. 6. Jeder Bete Für Sich Allein
  7. 7. Setz Dich Her
  8. 8. Mund-Zu-Mund-Beatmung
  9. 9. Immer Noch Besser Als Arbeiten
  10. 10. Deutschland
  11. 11. Die Letzten Unserer Art
  12. 12. Auf Meine Mutter
  13. 13. Ich Möchte Anders Sein
  14. 14. Ein Fauler Trick

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11 Kommentare mit 7 Antworten

  • Vor 8 Jahren

    Dieser Kommentar wurde vor 8 Jahren durch den Autor entfernt.

  • Vor 8 Jahren

    HRK begleitet mich seit 30 Jahren, er hat bei mir endlos Kredit. Es stimmt schon, zwischendurch gerät manches in die Veröffentlichung, was gescheiter in der Schublade geblieben wäre. Aber von einem gewissen Punkt an ist das egal. Man macht die Platte schließlich auch für sich selbst. Und unter uns Künstlern: Auch die Stones, Bob Dylan etc. haben zwischendurch belangloses Zeug gemacht. Und das darf der Kritiker dann auch sagen, nicht wahr, er mag den Kunze ja.

  • Vor 8 Jahren

    Dieser Kommentar wurde vor 8 Jahren durch den Autor entfernt.