laut.de-Kritik

Berlin, Bowie, Bier und Bratwurst.

Review von

Drei Jahre und genau zwei Monate nach der Veröffentlichung dreht sich die Vinylscheibe von "The Idiot" auf dem Plattenteller eines 23-Jährigen in Macclesfield bei Manchester. Niemand hätte davon je Kenntnis erlangt, wäre dieser Kerl nicht Ian Curtis gewesen, Sänger der aufstrebenden Band Joy Division, der Iggy Pops Solokünstler-Debüt als Soundtrack für seinen Suizid auswählte.

Die Anekdote, die in Anton Corbijns Ian Curtis-Porträt "Control" verewigt wurde, spiegelt auf morbide Weise den düsteren Tenor des Albums und gleichzeitig den Einfluss wider, den die Platte nicht nur auf Joy Division, sondern auf die Spät-70er-Entwicklungen Postpunk/Synthie-Pop im Allgemeinen ausübte. Sonderbarerweise ist es nicht das Album, für das Iggy Pop heute berühmt ist. Wenn es so etwas überhaupt gibt, müsste man wohl "Lust For Life" nennen, das später im Jahr 1977 veröffentlichte Album, das mit "The Passenger" und dem Titeltrack Pops größte Hits enthält.

Doch Berühmtheit erlangte Iggy Pop eher weniger für Songs oder Alben, sondern vielmehr als ureigenes Trademark, wovon die Red Hot Chili Peppers bereits 1995, also kurz vor Beginn seiner monetär einträglichen Spätphase, kündeten: "Meet me at the coffee shop / We can dance like Iggy Pop." Niemand tanzt eben so wie Iggy Pop, wenn auch zum damaligen Zeitpunkt kaum jemand so erfolglos ist wie Iggy Pop.

Vielleicht hat Danny Boyle diesen Song gehört, zumindest sollte dank dessen '96er-Kultfilms "Trainspotting" endlich die Zeit beginnen, in der die Kultfigur Iggy Pop wiederbelebt wird, die Figur des Hellraisers aus Detroit, des wirren, langhaarigen Alten, der auf der Bühne noch mit 50 mehr Druck entfacht als sämtliche Halbsoalten plus Henry Rollins. Die Figur des ewig schlanken, lederhäutigen und bestbeleumundeten Zerberus der Garage Rock-Walhalla.

Ich war versucht zu schreiben, Iggy Pop liefere im Prinzip das Paradebeispiel für jemanden, der stets zur falschen Zeit am falschen Ort war, aber dann fällt mir dieses Youtube-Interview vor die Füße, in dem The Ig lässig erzählt, wie er 1989 - also nicht gerade in seiner besonders hippen künstlerischen Phase - Nirvana mit 60 Leuten in New York gesehen hat: "And I thought 'Oh dear that boy's got the shit!'".

Der 'Shit' war Iggy zuallererst mal in seiner visionären Schaffensperiode zwischen 1969 und 1973, als er drei The Stooges-Alben einhämmerte: Ein Sound, der seiner Zeit ebenso weit voraus war wie der von Velvet Underground 1967. Zehn Jahre nach den Pionierleistungen der Combo um Lou Reed, kommt der britische Punkrockzug just in dem Moment ins Rollen ("Never Mind The Bollocks" der Sex Pistols erscheint im Herbst '77), als Iggy Pop mit "The Idiot" die Elektronik für sich entdeckt.

Nach dem kommerziellen Misserfolg des finalen, von Iggy-Fan David Bowie produzierten Stooges-Albums "Raw Power" verliert sich Pop erneut im Drogensumpf. Ein paar wenige Studiotermine, unter anderem mit Bowie, verpasst er aufgrund anderer Termine in seinem Paralleluniversum. Schließlich weist sich der Bühnenberserker selbst in eine Nervenheilanstalt ein.

Wieder draußen, kontaktiert er als erstes den alten Kumpel Bowie, der sich seinerseits gerade im endlosen Kokainrausch befindet, allerdings gebettet auf dem finanziell einträglichen Leben eines Superstars. Der Brite nimmt sich abermals seines gestrauchelten Idols an. Direkt nach seiner "Station To Station"-Tour Mitte 1976 planen die Toxic Twins Iggys Solodebüt, dessen Grundgerüst in einem Schloss aus dem 18. Jahrhundert unweit von Paris entsteht. Bowie hatte dort drei Jahre zuvor bereits "Pin Ups" aufgenommen und sollte für "Low" später im Jahr zurückkehren. Pink Floyd ("Obscured By Clouds") und Elton John zählten zu den ersten Gästen der Residenz, letzterer benannte sogar sein 1972er Album "Honky Château" nach dem Ort.

Mit Schloss-Pächter, Soundmann und Bassist Laurent Thibault sowie Session-Drummer Michel Santangeli schreibt Bowie erste Songs an Keyboards, Saxofon und Drum-Computer, die seinen Freund wieder auf die musikalische Landkarte bringen sollen. Für den zweiten Teil des Aufnahmeprozesses reisen Bowie und Pop weiter in Giorgio Moroders Musicland Studios nach München. In den Berliner Hansa Studios bekommt "The Idiot" im Spätsommer den Final Mix-Feinschliff verpasst.

Daher könnte man in Anspielung an Bowies Berlin-Trilogie ("Low", "Heroes", "Lodger") eigentlich von einem Berlin-Quintett sprechen, das die beiden Berliner Iggy-Alben mit einschließt. Nach dieser Geschichtsschreibung markierte "The Idiot" der Auftakt dieser berühmten Periode, denn obwohl Bowies "Low" im Januar 1977 vor "The Idiot" erscheint, bilden diese acht Songs den Ursprung von Bowies Experimentierphase (und RCA hatte sicher mehr Interesse an einer raschen Veröffentlichung einer Bowie-Platte).

Vorbereitend auf die Studioaufnahmen bringt Bowie seinem Kumpel Platten von Kraftwerk, Brian Eno, Neu! und Cluster näher und stößt bei dem Ur-Punk sofort auf Interesse. "Ich war noch immer auf meinem Trip, Dinge zu tun, die noch niemand vor mir getan hat", erinnerte sich Pop später in einem Interview. "Und mit Bowie hatte ich einen talentierten Mann an meiner Seite, der experimentieren, dies aber nicht unter seinem eigenen Namen tun wollte."

Als Bowie mit der zähen Elektro-Walze "Nightclubbing" ankommt, ist Iggy hellauf begeistert. So etwas hatte er noch nie gemacht. Musik mit Drumcomputern und billigen Sounds - so kaputt wie die Stooges zwar, aber auf ganz andere Art. Der Song nimmt den Ton des Albums vorweg: "The Idiot" klingt wie nichts, was Iggy vorher oder nachher aufgenommen hat. Ein so autarkes wie faszinierendes Werk in seiner Diskographie.

Speziell "Nightclubbing", später gecovert von unter anderem Grace Jones, Peter Murphy und ebenso Bestandteil des "Trainspotting"-Soundtracks, steht exemplarisch für die inzwischen mythischen Nächte des diabolischen Trios Pop/Bowie/Reed: "Nightclubbing / we're nightclubbing / We walk like a ghost / We learn dances / brand new dances / Like the nuclear bomb." Speziell Fad Gadget hörte hier ganz genau hin und konzipierte seinen strengen Debütklassiker "Back To Nature" getreu der "Nightclubbing"-Formel. Trent Reznor samplete später die Kickdrum des Songs und modifizierte sie für den NIN-Klassiker "Closer".

"Sister Midnight", für das auch Bowie-Gitarrist Carlos Alomar Credits erhält, ist eine Art "Station To Station"-Funkrock, aber mit gehörig Kajal. "Funtime" hätte den Stooges-Fans 1977 sicher gefallen, wäre es nur mit herkömmlichem Rock-Instrumentarium eingespielt worden. So aber grundiert ein schneidendes Synth-Bassgerüst die vor allem gegen Ende des Songs kreischenden E-Gitarren, während Iggy seine Vorstellungen eines spaßigen Abends formuliert: "I'm gonna get stoned and run around." Die Nächte in Berlin fasste er später so zusammen: "Cocaine, German grosse Bier, sausages and Bratwurst". Wohl bekomms!

"China Girl" hätte streng genommen "Vietnamese Girl" heißen müssen, behandelt es doch eine Frauengeschichte Iggys mit einer Vietnamnesin. Hätte phonetisch aber halt nicht so gut gepasst. Der Song offeriert bereits alle Reize, die Bowies erfolgreiche Solo-Version sechs Jahre später entfachen sollte, doch die verzweifelte Zeile "It's in the white of my eyes" schreit Iggy dann doch glaubwürdiger raus.

Auf Drängen Bowies versucht sich Iggy drei Jahre nach der Trennung auf "Dum Dum Boys" an einer Stooges-Hommage, oder besser, an einer Ode an die Freundschaft zu seinen alten Kameraden. Ob der Talk Talk-Song "Dum Dum Girl" oder gar die gleichnamige Band darauf rekurrieren, ist jedoch reine Spekulation. Der Song selbst ist im Midtempo gehalten, mit zwielichtig-melancholischer Melodieführung und einem Killer-Riff analog zu "Dirt" von den Stooges ausgestattet, nur diesmal mit Gitarre statt Bass. "Are you alive or dead?", ruft Iggy seinen alten Kumpels zu, während er in der "Welthauptstadt des Heroins" (Bowie) mit seinem neuen Freund versumpft.

"Tiny Girls", später von Martin Gore gecovert, ist nur ein kurzes, saxophongetränktes Durchatmen, bevor "Mass Production" zum monoton-desillusionierten Analog-Synthie-Finish aufruft. Joy Division auf Valium. Wie einem heruntergekommenen Ami-Punk und einem britischen Glamrocker solch ein Album gelingen konnte, bleibt für alle Zeit rätselhaft.

Profitieren konnten sie beide voneinander. Bowies "Heroes"-Cover verneigte sich später wie "The Idiot" mit einer Geste vor dem sächsischen Brücke-Maler Erich Heckel. Bowie fand durch die Arbeit an "The Idiot" zu einer neuen Soundvision, die in seine Berlin-Trilogie mündete. Iggy komponierte in Bowies Beisein zwei der besten Alben seiner Karriere.

Wie seinem Mentor sollten die 80er Jahre auch Iggy größtenteils übel mitspielen, so wurde es ein langer Weg bis zum Idol aller rechtschaffenen DIY-Künstler, der gleichzeitig Werbesports für Telekommunikationskonzerne drehen, mit rotem Ferrari herumcruisen und im Rentnerparadies Miami Beach logieren kann, ohne Credibility zu verspielen. 2014 ist Iggy präsenter denn je, während Bowie - trotz neuen Albums und Ausstellung in Berlin - seltsam gestrig wirkt.

Freundschaftlich verbunden waren sich beide schon 1977 nicht, doch vergangenes Jahr verriet Pop in einem Interview, dass ihm Bowie nach wie vor in einer Sache voraus sei: "Vor zehn Jahren hat er mich hier [in Miami] angerufen. Ein nettes Gespräch: Wie geht es dir? Was lief die letzten Jahre? Freundin? Verheiratet? Sowas, halt. Seitdem haben wir nicht mehr gesprochen. Was okay ist. Er hat in den letzten zehn Jahren sicher eine unglaubliche Menge Dinge getan, die niemanden etwas angehen. Er ist komplett vom Radar der Öffentlichkeit verschwunden, was mir Respekt einflößt. In diese Richtung bewege ich mich hoffentlich auch. Das soll jetzt nicht garstig klingen, aber ich habe es satt, mit Leuten wie euch zu reden."

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. Sister Midnight
  2. 2. Nightclubbing
  3. 3. Funtime
  4. 4. Baby
  5. 5. China Girl
  6. 6. Dum Dum Boys
  7. 7. Tiny Girls
  8. 8. Mass Production

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3 Kommentare

  • Vor 10 Jahren

    Sehr sehr schöne Review, ich ziehe den Hut. Zum Album wurde auch alles gesagt, für mich persönlich auf jeden Fall ein Highlight, hat eine ganz eigene Stimmung die mich immer wieder kriegt.

  • Vor 10 Jahren

    Cool.. :) Danke,.. wirklich schöner Artikel. Wenn doch der Mr. Gore mal'n bissi mehr aus sich raus kommen würde.. :D

  • Vor 5 Jahren

    Ich bin mehr aus der LFL-Fraktion, weil es einfach mehr Schwung und - natürlich - die Hits hat.

    Zu denen gehört der oft hoch gelobte Titeltrack für mich übrigens nicht so sehr, dafür aber unbedingt "Neighborhood Threat", dem insgesamt eher wenig Liebe entgegenschlägt (war z.B. auch nicht in eurer Top50-Iggy-Songs-Liste) und von dem ich auf diesem, wie ich eigentlich finde, recht lesenswerten Bowie-Nerd-Blog ( https://bowiesongs.wordpress.com/2011/04/0… ) , sogar empört lesen musste, er sei im Grunde "a Blue Oyster Cult song with much dumber lyrics and worse playing".

    Das hier ist aber natürlich auch eine tolle Scheibe, im Vergleich mit den deutlich schrägeren Grooves, cooler und einflussreicher wars bestimmt auch. Hat außerdem das weniger hässliche Coverfoto.