laut.de-Kritik
Ein Meisterwerk, vorgetragen von Meisterwerkern.
Review von Emil DröllMan könnte meinen, die Musikindustrie habe ein geheimes Bonuslevel gefunden, in dem man einfach bei alten Platten immer wieder auf "Neu" drückt. Die Flut an Re-Releases steigt jedenfalls schneller als der Pegel an einem Freitagabend, und inzwischen werden sogar Live-Alben so gründlich remastered, dass man sich fragt, ob die Bands überhaupt wirklich vor Ort waren oder ob einfach die Studioversion über Boxen lief. Natürlich freuen sich Sammler über jedes glänzende Update – aber manchmal wirkt es, als würde man dasselbe Fischstäbchen zum dritten Mal braten und behaupten, jetzt knuspert es wirklich.
Jethro Tull umschiffen glücklicherweise diese Klippen – mit schlichter Brillanz. Was 2005 als "Aqualung Live" aus einer Sirius XM-"Then Again Live"-Vorführung veröffentlicht wurde, erfährt nun seinen Remaster. Akustisch lassen sich vor allem die einzelnen Tonspuren besser voneinander abgrenzen: Wo vorher Perkussion und Gitarre gelegentlich zusammengematscht haben, stehen sie jetzt klar getrennt, mit mehr Tiefe und Kontur.
Das Konzert startet – natürlich – mit dem Titeltrack. Ian Anderson erzählt in weltklasse Storytelling "Aqualung", einen Song, der sich wie mehrere Songs in acht Minuten gepresst anfühlt. Im besten Sinne. Die Akustikgitarre wurde dankenswerterweise nicht so glattgeschmirgelt, dass sie ihren Charakter verliert; mal lauter, mal leiser – alles noch da. Dann das steigende Tempo, und plötzlich vergisst man, dass man eine Live-Platte hört. Was anderswo irritieren würde, funktioniert hier erstaunlich gut. Spätestens Martin Barre gießt wieder den nötigen Charakter ein, und zwar mit einem Gitarrensolo, das live noch mehr scheppert als ohnehin schon. Ein Meisterwerk, vorgetragen von Meisterwerkern. Die Gitarre rumpelt im Remaster so satt, dass man kurz überlegen muss, ob die Nachbarn nicht auch langsam eine Meinung zu Jethro Tull entwickeln müssten.
"Crosseyed Mary" macht mit seinem unverkennbaren Intro weiter. Das Mellotron wird zwar übersprungen, dafür darf aber die legendäre Flöte ran. Das Publikum ist, wenn überhaupt, nur zwischen den Tracks zu hören. Was anderswo an Authentizität Abstriche machen würde, spielt diesem Album in die Karten, denn die Performance ist schlicht göttlich.
"Crosseyed Mary" hält die Messlatte nach dem legendären "Aqualung" hoch. "Cheap Day Return" kommt live sogar besser weg als auf der Studioversion; auf die akustische Verschnaufpause folgt "Mother Goose": ebenfalls akustisch, dafür länger und arrangierter. Das Storytelling, die Flöten, der runde Sound – alles sitzt. Der folkige Charakter tut dem Album spürbar gut.
"Wond'ring Aloud" dient live eher als ruhiges Interlude, bevor der Chaostrack der Platte losbricht. "Up To Me" lebt von seinem Piano-Groove und der fehlerfrei gespielten Querflöte; ruhige und ausufernde Passagen stehen sich fast antithetisch gegenüber.
Mit "My God" wird's dann atheistisch – und live zu einem der stärksten Momente. Piano, Akustikgitarre, Anderson: mehr braucht es im Intro nicht. Dann setzt die E-Gitarre ein, die Querflöte tritt nach, und plötzlich wirkt alles wie ein Orchester, obwohl keines da ist. Ein Banger, live sogar stärker als im Studio. Der Chor tut sein Übriges.
"Hymn 43" macht proggiger weiter – Zeit für die endgültige Eskalation. Jethro Tull lassen live sogar das Studioalbum blass aussehen. Auf "Slipstream" folgt "Locomotive Breath" - hardrockige und bluesige Anleihen treffen auf Storytelling der Extraklasse; Rock'n'Roll lebt auch bei Jethro Tull weiter. Der Track, der alles vereint, und der Track, der live alles ausschöpft, was da ist. "Wind-Up" beschließt das Album ähnlich stark.
Was bleibt? Eine remasterte Version einer Live-Version einer legendären Studio-Version. Was 1971 perfekt war, war 2005 perfekt – und ist auch 2025 noch perfekt. Wer die 2005er-Version im Regal stehen hat, muss nicht zwingend zur 2025er greifen. Wer jedoch Jethro Tull in Höchstform erleben will, kommt an diesem Auftritt nicht vorbei. Live wachsen sie an vielen Stellen über sich hinaus. Wenn es eine olympische Disziplin für "musikalisch bedingte Zeitreisen" gäbe – dieses Album hätte Bronze. Mindestens. Silber, wenn die Jury Flöten mag.


3 Kommentare mit 2 Antworten
Lieber ein im Kern 54 Jahre altes Album reviewen als das neue Daniel Caesar Album?
Ja, ich bin angesteckt, ich gebs zu...
+1
Mit ihm kann mans ja machen
Langsam wirds frech
Liebes Laut.de Team, könntet Ihr bitte jeden User, der eine Rezi von diesem Cäsar Müll fordert, löschen? Wäre supernett, denn der Spam unter sämtlichen Beiträgen hier nervt mit der Zeit.
Schließe mich dem an.