laut.de-Kritik
Rest in Peace, Lo-Fi-Girl.
Review von Yannik GölzIch finde, das Lo-Fi-Girl verdient eine angemessene Grabrede. Rest in Peace, Lo-Fi-Girl. Du warst für einen kurzen Moment eine tolle Oase Internet. Zumindest warst du es, bist du es nicht mehr warst.
Wahrscheinlich haben wir alle an irgendeinem Punkt in den letzten zehn Jahren den YouTube-Kanal "ChilledCow" gefunden. Der hat den legendären, ewigwährenden "LoFi Hip Hop Radio / Beats to Relax and Study to"-Stream ins Leben gerufen. Es war quasi das im Internet rückwärts entworfene Radio für die Gen Z: Ein ewigwährender Stream eines Musikstils, der in den kommenden Jahren als "Lo-Fi Hip Hop" ins Wörterbuch eingehen würde. Dazu loopte immerwährend ein Gif aus dem 1996-Ghibli-Film "Whisper Of The Heart": Ein Anime-Mädchen, das sich über ihre Hausaufgaben krümmt.
Ihr habt das vielleicht nicht mitbekommen, aber: Der Lo-Fi-Hip Hop steckt in einer Krise. Nicht erst seit gestern. Kaum ein Genre ist in den vergangenen Jahren so emblematisch für die Chill-Playlist-ification des Streaming-Zeitalters geworden. Klickt man heute auf das "Lo-Fi Girl", das nicht mehr "Chilled Cow" heißt - oder auf einen von Tausenden anderen Livestreams oder Playlists, bekommt man sehr viel "to relax and study to" und sehr wenig "Beats". Was als der Schrein einer kleinen Nerd-Community von J. Dilla-Akolythen begonnen hat, ist heute ein leergefischter Teich, in dem Online-Glücksritter und KI-Opfer gefällige, gleichförmige und formelhafte Ambient-Klaviere über die immergleichen Drum-Loops tuckern lassen.
In ihrem Buch "The Mood Machine" legt die Autorin Liz Pelly ein ganzes Kapitel über den Niedergang von Lo-Fi-Hip Hop vor, in dem sie die Parallelen zur Spotify-Maschine aufzeigt: Modernes Streaming lechzt nach der Hintergrund-Aufmerksamkeit. Keine Musik ist lukrativer als die, die man unkritisch und immerwährend im Hintergrund hört. Deswegen ist jede Playlist, die Spotify an den Mann bringen möchte, "chill" oder "relaxing" oder "ambient". Bestenfalls wollen Dienste wie Spotify gar einen schlafenden Konsumenten. Man muss nicht groß mitdenken, wie Anti-Kunst dieser Umgang mit Musik ist. Streaming hat, genau wie mit vielem modernen Ambient, Jazz oder Coffeehouse-Indie, aus dem Hip Hop ein neues Muzak hervorgebracht.
Die vollumfängliche Tragik dieses Zustandes spürt man erst, wenn man den Ist-Zustand von Lo-Fi-Beats in Vergleich zu der Musik setzt, die sie inspiriert hat. Denn es gibt eine Iteration der selben musikalischen Ideen, die jedes aktive Hören, die jedes Schwelgen, jedes Sich-Darin-Verlieren nicht nur ermöglicht, sondern eigentlich unvermeidbar macht. Und es ist das Album, das jeder Lo-Fi-Beat in den besten Tagen der Strömung gern gewesen wäre: "Modal Soul" von Nujabes.
"Modal Soul" ist eins von drei großen Hip Hop-Producer-Alben. Aber Dillas "Donuts" hat eine fragmentierte Art und sein Micro-Timing, das es musikalisch wesentlich wilder und komplexer als das macht, was man heute Lo-Fi nennt. Gleiches gilt aus anderen Gründen für "Endtroducing" von DJ Shadow, das vor allem eine Ode an die kreativen Potenziale des Samplings ist.
"Modal Soul" ist auf den ersten Blick das Album, das die wenigsten Tricks beherrscht. Es ist in Sachen Beatmacherei auf dem Papier absolute Hausmannskost. Und trotzdem entfaltet es auch heute, fast genau zwanzig Jahre nach seiner ersten Veröffentlichung, einen unwiderstehlichen Zauber. Wenn man verstehen will, was diese Form Musikalität in seiner besten Form so großartig machen kann, wenn es weder die fancy Tricks noch per se die Experimentierwut ist: Wie konnte Nujabes mit so simplen Mitteln so viel erreichen?
Ich habe drei Thesen, warum Nujabes die Samplebeat-Formel so gottgleich durchgespielt hat. Die erste lautet: Er hat ein Ohr für Samples, bei dem bestenfalls noch Madlib mithält. Und dieses Ohr für Sample ist weniger ein rhythmisches, als ein atmosphärisches.
"Feather", der eröffnende Track auf "Modal Soul", hat einen Anspruch darauf, einer der besten, makellosesten Beats der Hip Hop-Geschichte zu sein. Dabei ist es alles andere als einfach, das Besondere daran zu benennen. Die Elemente sind trügerisch einfach. Wir bekommen einen Drumloop von der Detroiter Gospel-Band Power Of Zeus, ein bisschen höher beschleunigt, als man es erwarten würde. Aber das ist einer der gängigen Hip Hop-Drumbreaks. Man hört ihn auch auf "Murder To Excellence", auf Eminems "Amityville", Pete Rock, Action Bronson, Common, Cypress Hill. Wahrlich: Kein Hexenwerk.
Der Star der Show ist dementsprechend eher der Piano-Loop. Der entstammt der Feder (höhö) von Yusuf Lateef, dem Jazz-Multiinstrumentalisten, der seinen Start mit Cannonbal Adderly gefunden hat und bis in die späten Sechziger noch klarer als die anderen Fusion-Spieler der Bop-Tradition verhaftet war. Ich habe sein Album "Eastern Sounds" einmal auf Empfehlung eines Freundes gehört, weil das Album eine ziemliche Fanbase hat. Ich wusste um die Verknüpfung nicht. Aber als dann bei etwa zwei Minuten die besagte Klaviermelodie ertönte, hat es mich fast aus den Socken gehauen: Es war wie ein Diamant zwischen Murmeln.
Ich weiß nicht, ob diese zwei Takte Piano wirklich einen kurzen, flüchtigen Moment Transzendenz erwischen, oder ob ich mich einfach zu sehr an "Feather" gewohnt habe. Trotzdem schöpft Nujabes hier aus einer kurzen Improvisation im Stück einen melodisch und texturell so interessanten Loop. Es gibt auch den Beweis, dass das nicht jedem gelingt. 2003 hat der ebenfalls sehr renommierte Blockhead ebenfalls denselben Track geflippt. Sein Ergebnis namens "Triptych, Pt. 1" lässt sich durchaus sehen, klingt aber vielmehr wie typischer BoomBap, der schon so oft aus Lateef geflickt wurde.
Das geht nahtlos in meine zweite These über, nämlich: Nujabes hat mehr als jeder andere die Seele eines Loops verstanden. Er greift mit eiserner Präzision Passagen heraus, die atmosphärisch zu etwas verwachsen, das mehr als die Summe seiner Teile ist. Eine schöne Beschreibung seiner Arbeit ist, dass er das Sampling als eine intuitive Zelebration von Musik selbst versteht. Ja, da ist etwas Melancholisches und Verträumtes in den besten Beats dieser Platte. In "Reflection Eternal", in "The Sign" oder im spektakulären Closer "Horizon".
Aber mehr als alles andere filtert er sie zu einer kohärenten Atmosphäre. Da ist ein Gleichgewicht aus Schwermut und Lebensfreude, eine in sich hermetisch schlüssige Schönheit, die er in seinen Loops findet. Er destilliert diese einzelnen Momente und bringt sie in einen hedonistischen Zustand der Ewigkeit. Er sagt: 'Diese Stelle könnte ich für immer hören, ich würde sie am liebsten wieder und wieder wiederholen'. Und diese spielerische, leidenschaftliche Verliebtheit in sein eigenes Ursprungsmaterial spürt man durch jede Sekunde dieses Albums.
Letzte These: "Modal Soul" macht darüber hinaus und gerade deswegen auch ein fantastisches Albumgefüge. Nicht nur, weil er aus all diesen Stoffen, aus verschiedenen Genres und teils Epochen eine wirklich kohärente Atmosphäre knüpft. Verdammt, die zweite Hälfte von "World End's Rhapsody" geht in einen regelrechten House-Party über, der in seiner Textur fast ein bisschen an etwas erinnert, das die Avalanches hätten machen können.
Aber "Modal Soul" ist ja kein Instrumental-Album. Da sind eine ganze Menge Leute auf diesen Beats - und die gängige Kritik lautet ja, dass die teilweise nicht ganz up to the task sind. Ich widerspreche: Ja, da sind zwar ein paar eher wahllos zusammengeschmissene Leute aus dem japanischen Rucksack-Untergrund neben C-Listern der Soulquarian-Bewegung. Und sie sind vielleicht stimmlich oder flowmäßig nicht auf dem Level eines DOOMs oder eines Mos Defs. Aber verdammt, all diese Leute haben viel miteinander gearbeitet - und man spürt es.
Kein Track strahlt in dieser Hinsicht mehr als "Thank You" mit Apani B, die - wie wir neulich schon in einer Doubletime recherchiert haben - in ihrer kurzen, aber komplexen Rapkarriere immerhin auch auf Black Star- und DOOM-Alben gelandet ist. In ihrer Hook sagt sie dann Folgendes: "I thank you all for showing love to me / I appreciate this unique opportunity / I'm gonna rock so hard so you never stop supporting me / I'm gonna show you how music brings more meaning to life". Und die Line, die hier elementar heraussticht, ist die Erste. "I thank you all for showing love to me". Das ist die Line, die mich bezüglich dieses Albums radikalisiert hat.
Wir haben da also diesen schüchternen Beatmacher, der sich von der anderen Seite des Ozeans aus einen kleinen Namen gemacht hat - und auf einmal tummeln sich ein paar Gleichgesinnte in seinem Workshop. Und du hörst wirklich jedem Einzelnen an, dass sie strahlend glücklich sind, an dieser Zeit an diesem Ort zu sein. Sie alle sind beseelt und begeistert davon, dass Hip Hop diese Brücke ans andere Ende der Welt geschlagen hat. Und da ist eine Mystik, etwas wirklich Transzendentes darin, wie sie alle zu spüren scheinen, dass diese Beats etwas Besonderes sind. Nein, sie sind nicht die krassesten Rapper aller Zeiten. Aber man spürt ihnen allen die Schwerkraft an, in der Präsenz etwas sehr Besonderen zu sein. "Modal Soul" strahlt eine kleine Hip Hop-Community aus, die verschmilzt und größer als die Summe ihrer Teile ist. Kein Album macht mir diesen "One Love"-Gedanken so romantisch und sehnsuchtsvoll schmackhaft wie "Modal Soul".
Und das führt uns zum Lo-Fi Hip Hop zurück: Wenn man sich mit Fans von Nujabes und J. Dilla auskennt, dann weiß man, dass sie ihre Idole mit teils alberner Heldenverehrung begegnen. Aber man versteht auch, warum die Musik ihnen so viel gibt. Die frühen Beatbastler, die zu Lo-Fi-Hip_Hop geworden sind, waren genau das: Community. Sie waren Top-Poster auf Whosampled, vernetzt über Facebook-Gruppen, wo sie ihre neuen Plattenladen-Funde miteinander geteilt - oder sie bewusst voreinander verschwiegen haben. Sie kannten Dillas kleine Rhythmus-Geheimnisse und hatten Lieblings-Brasilianische-Jazz-Fusion-Alben aus den Siebzigern. Du konntest in diesen Facebook-Gruppen fragen, ob jemand Empfehlungen für türkischen Psych-Rock aus den Neunzigern hat, und du konntest sicher sein, dass binnen einer Stunde dreißig Empfehlungen am Start waren. Ich weiß das. Ich war Teil dieser Gruppen.
Aber je größer Lo Fi-Hip Hop wurde und je mehr Ansprüche gestresst lernende Student*innen an das Feld stellten, desto mehr Geld gab es zu verdienen. Das ist das Gesetz von Nischen und Subgenres: Sie werden mutieren. Und manchmal entsteht aus einer Mutation etwas Spannendes, Neues. Manchmal verwäscht sich aber auch die eigentliche DNA.
Man hat schnell verstanden, dass Geld nicht mit den Beatmachern zu verdienen ist, die das Medium des instrumentalen Hip Hops nutzen wollten, um sperrige, abstrakte und herausfordernde Sounds zu finden. Diese Beatmacher wanderten ab und arbeiten heute mit Leuten wie MIKE oder Billy Woods zusammen, wo sie wesentlich weniger Geld verdienen. Im Lo-Fi blieben stattdessen zumeist geschäftssinnige Kids, die verstanden, wie man die Playlists und Livestreams bedient.
Die Konsequenz ist, dass du heute beim Lo-Fi-Girl kaum noch Samples hörst. Warum auch? Samples kosten Geld, Samples darfst du nicht im gleichen Ausmaß monetarisieren. Stattdessen gibt es doch wunderbare Presets für Klavier und Synthesizer. Und die klassischen Jazz-Akkorde kennt man doch auch halb-auswendig. Wenn man also einen simplen Drumbreak mit typischen Chords von einfachen Presets zusammenschustert, vielleicht ein bisschen Plattenrauschen und Ambience drunterlegt, dann füttert sich die Maschine schnell und effizient. Viele dieser Lo-Fi-Producer hatten irgendwann mehrere Künstlerprofile und produzierten absolut im Akkord. Warum auch Qualität oder gar Herausforderung anstreben? Neunzig Prozent der Zielgruppe hörten doch eh kaum zu.
Aber das ist der Grund, warum eine kleine Internet-Oase über die Jahre immer weniger interessant wurde. Heute gibt es quasi keine Chance mehr, zwischen all dem Drivel einen Beat wie "Feather" zu hören, der wahrscheinlich herausstechen würde, wie mir das Pianomotiv aus dem Lateef-Song herausgestochen sind. Es ist ein See aus Glas ohne Diamanten. Und das ist traurig. Rest in Peace, Lo-Fi-Girl. Es war eine schöne Oase, die du für einen kurzen Moment der Geschichte geschaffen hast. Aber es beruhigt mich zu wissen, dass all die Beatmacher, die damals Nujabes in Ehren halten wollen, wie sie auch Dilla, Shadow, Pete Rock, Preemo und Madlib in Ehren halten wollen, immer noch da draußen sind. Die Seele von Alben wie "Modal Soul" wird nie zerstäuben, egal, wie sehr manche Leute sie verwässern wollen.
In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.


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