laut.de-Kritik
Kurzgeschichten aus dem Herzen.
Review von Andrea TopinkaWer Julia Holters bisherige Alben kennt, erwartet von ihrer vierten Platte ein konzeptuelles Vorgehen: Werke von Euripides, Virginia Woolf oder Colette inspirierten sie zu den Vorgängern. Ihre Interpretationen versteckte sie hinter akustischen und elektronischen Experimenten, weshalb sie schnell den Ruf einer begnadeten, aber auch schwer zugänglichen Musikerin genoss.
"Have You In My Wilderness" markiert nun eine Zäsur. Holter lässt zur Arbeit am neuen Album verlauten: "Ich fing an, ein paar Songs aus meinem Herzen heraus zu schreiben." Sie öffnet sich inhaltlich hin zu einer persönlicheren Perspektive, deren Hauptthema die Liebe ist, manchmal ganz deutlich, im anderen Moment so geheimnisvoll erzählt wie früher.
Die Arrangements verfolgen dieselbe Linie: Befreit vom vertrackten Ballast der Vorgänger wachsen sie zu eingängigen Pop-Melodien heran. Das Spiel mit Orchester, Elektronik und Akustik führt die Amerikanerin fort, bleibt dieses Mal aber stets die Meisterin der Sound-Schichten. Die Vocals dominieren Streicher, Synthesizer, Cembalo und die vielen anderen Klänge.
Trotz der textlichen und musikalischen Entschlackung ist "Have You In My Wilderness" ein facettenreiches Album geworden, das in diversen Genres wandert, während Holter beziehungsweise ihre Protagonistinnen in verschiedenen Rollen schlüpfen.
Verhallten Dream-Pop treibt im Opener "Feel You" ein Cembalo. Die unschuldige Mädchen-Attitüde des Songs weicht in "How Long?" dem Auftritt einer desillusionierten Diva aus, die vor Streichern seufzt: "I ask a fortune teller what they whisper when I walk by." Später hüpft sie hingegen frech und ironisch in "Everytime Boots" im klatschenden Country-Pop.
"Betsy On The Roof" blickt in gefährliche Abgründe der 80er-Power-Piano-Balladen. Bevor sich aber ob etwaigem Kitsch jemand beschweren könnte, stürzt sich die Multiinstrumentalistin mit ihrem Mitspielern in den experimentell-jazzigen Trip "Vasquez" voller distanziert gesprochener Textzeilen.
Zwischen all dem eingestreut, kreisen Julia Holters Gedanken immer wieder um Meer und Natur: "Lucette Stranded On The Island" unterstreicht klangmalerisch die Geschichte der Schiffbrüchigen mit Harfe, Flöten und Glocken. Auch Cembalo, Pfeifen und Saxofon in "Sea Calls Me Home" passen gut zum Blick auf die See der Erzählerin, der Zweifel genauso hervorruft wie Aufbruchstimmung.
Obwohl die Künstlerin also mit "Have You In My Wilderness" ihren Konzeptalben-Rahmen verlassen hat, gelingt ihr nicht nur ein buntes Album, sondern nach wie vor ein imposantes Schauspiel. Die Kurzgeschichten der einzelnen Songs sind filmreif arrangiert. Holters neuer Mittelweg zwischen verworrener Komposition und klarer Melodie lädt alle mit offeneren Armen als zuvor ein, in die Szenen einzutauchen.
6 Kommentare
Die Musik wirkt offener und abwechslungsreicher, aber immer noch so faszinierend sperrig, das man das Album nicht so schnell beiseite legt. Auch die Referenzen am Prog der 70er, Beatles oder Fleetwood Mac lassen aufhorchen. Kurz: Auch in dieses Album bin ich wieder mal verknallt.
Lieblingssongs: Feel You, Lucette Stranded On The Island, Vasquez (ganz stark)
5/5. Gibt so ziemlich niemanden, der auch nur ähnlich wie Holter klingt. Absolut idiosynkratisches Album und Sound.
Tolles Album. Trotz der Zugänglichkeit nutzen sich die Songs nicht ab.
Ich werde mir das Albung definitiv mal anhören. Danke für den Tipp, Andrea!
Liegt hier. Schon mehrfach auf'm Teller rotiert, zündet noch nicht. Was ist nur los mit mir?
Hey Andrea,
deine letzte Rezension ist von Ende September. Geht es dir gut? Lass doch mal von dir hören...
LG