laut.de-Kritik
Das größte koreanische Girlgroup-Debüt aller Zeiten.
Review von Yannik Gölz"I'm Fearless" ist zahlenmäßig das größte koreanische Girlgroup-Debüt aller Zeiten. Und es gibt ein paar Faktoren dafür, dass gerade dieses Sechsergespann in einem so gesättigten Markt diesen immensen Hype ausgelöst hat. Dass sie die erste offizielle Girlgroup beim BTS-Label Hybe sind und mit Sakura und Chaewon zwei prominente Mitglieder der aufgelösten Gruppe Iz*One in ihren Reihen zählen, zum Beispiel. Aber gute Grundlagen bringen dich nur so weit, wenn die Musik stimmt. Die erste EP dieser Monster-Rookies mag zwar keine Revolution sein, aber doch eine imposante Werkschau von ehrfurchtgebietendem Talent. Da trifft Model-Eiseskälte auf die teuersten Parfüm-Werbespots der Welt.
Klingt erstmal nicht besonders aufregend, aber die Umsetzung macht's: Allein der Opener "The World Is My Oster" setzt den Ton ein bisschen radikaler, als man es von den jungen Sängerinnen erwarten würde. Da bombt erstmal dieser richtig geile Techno-Beat aus den Boxen, wirklich gut genug für jeden hippen Berliner Dungeon, die Idols dürfen nur ein paar Sätze sprechen und klingen dabei stoisch, abgeklärt und fast ein bisschen zu cool. Ja, die High-Fashion-Ästhetik kann ein bisschen albern machen, aber sie betten diese erhabene Extravaganz eines Laufstegs glaubhaft in ihre Ästhetik ein.
Und spätestens der Titeltrack "I'm Fearless" zeigt dann: Sie lösen diese Grandeur ein. Der unterkühlte Retro-Beat verzichtet auf großen K-Pop-Bombast, mit dem andere Gruppen in jüngerer Vergangenheit auftrumpfen wollten, die Hook kommt schlicht und unterkühlt, der ganze Song stellt Suchtfaktor über Eindruck. Es funktioniert: Ein slicker Radio-Tune, irgendwo zwischen Charlie Puths "Attention" und dem Soundtrack zu einem dieser feinen Fitness-Studios irgendwo im Obergeschoss einer Mall, dessen Mitgliederbeitrag man sich gar nicht ansehen möchte. Da ist die groovende Bassline, die gut gestaffelten Vocal-Töne, die komplette Reduktion auf die notwendigen Momente. Es ist nicht die Art Song, die man aufgeregt seinen Freunden zeigt, aber die, die sich in die eigene Playlist schleicht und die man dann plötzlich Dutzende Male gehört hat, ohne es richtig zu merken.
Die Retro-Anleihen vergrößern sich auf "Blue Flame" noch weiter, man denkt direkt an "Break My Heart" von Dua Lipa, vielleicht auch, weil die Vocal-Lines in einer ähnlich distanzierten Kompetenz daherkommen. Auch auf den darauf folgenden B-Seiten "The Great Mermaid" und "Sour Grapes" zeigt sich eine professionelle Nonchalance, die sich gegen viele andere Pop-Acts abhebt. Le Sserafim sehen keine Notwendigkeit, unnötig Show aufzufahren, sie übersingen nicht, sie untersingen nicht. Der Camp-Faktor und die Freude am Übertriebenen, die den K-Pop oft unterhaltsam machen, fallen so weg. Aber es macht sie in ihrer Arena auch zu einem erfrischenden Fall.
Ebenso mag man im Laufe der EP an "The Neon Demon" von Nicolas Refn denken. Vielleicht, weil die emotionale Nüchternheit und der Laufsteg-Chic im Tandem mit den relativ leeren Phrasen eine gewisse Doppelbödigkeit unterstellt. "Ich habe keine Angst", wiederholen diese konventionell attraktiven Frauen immer wieder über wirklich nicht sehr abenteuerlustige Pop-Produktionen. Man könnte es ein bisschen Girlboss-esk finden, aber gleichzeitig schauen sie so nüchtern und unaufgeregt auf das eigene Genre, dass eine gewisse Entfremdung zu den eigenen Lyrics entsteht.
Und das fällt in erster Linie positiv auf die Idols zurück: Dass Chaewon und Sakura es faustdick hinter den Ohren haben, wissen wir seit ihrer Iz*One-Zeit. Aber auch die Neulinge machen Eindruck: Kazuha bringt ein großartiges Timbre mit, Eunchae überzeugt besonders auf dem Pre-Chorus von "The Great Mermaid" und Yunjin schafft stimmlich einen charismatischen Konterpunkt. Setzt man all das zusammen, erklärt sich der Hype, der auch ohne Pauken und Fanfaren in Fahrt kommt: HYBE und Le Sserafim wissen, dass sie hier ein Bomben-Team in den Händen halten. Sie schielen von Tag eins auf das Crossover jenseits der K-Pop-Bubble, weil sie offensichtlich verdammt viel Starfaktor haben. Die Ausstrahlung von "I'm Fearless" kommuniziert genau das. Vielleicht ließe sich der Titel statt 'ich habe keine Angst' eher zu einem 'ich weiß, wozu ich fähig bin' übersetzen.
1 Kommentar
Wenn das "ehrfurchtgebietende Talent" die "gut gestaffelten Vocal-Töne" auspackt, dann wird erstmal Grandeur eingelöst. Mit diesen Wortschöpfungen stellt der Autor dieser Zeilen seine "distanzierte Kompetenz" unter Beweis.