laut.de-Kritik

Exemplarische Auswahl aus 16 Alben eines Sprach-Genies.

Review von

An der Relevanz Leonard Cohens und seiner unerreichten Einzigartigkeit gibt es kaum einen Zweifel. Obwohl einige unstrittig große Nummern fehlen, führt die neue Anthologie "Hallelujah & Songs From His Albums" mehr oder minder durch alle Phasen seines Schaffens, wählt aber einen verwirrend künstlichen Titel. "Hallelujah - The Songs Of Leonard Cohen" heißt schon eine ganz andere Cover-CD, und "Hallelujah" ist natürlich auch ein Song eines Cohen-Albums genau wie die anderen "Songs From His Albums". Hier in einer bislang unveröffentlichten Live-Version enthalten, kommt dem Lied ein besonderer Stellenwert zu. Jeff Buckley sei Dank, überragt der Bekanntheitsgrad von "Hallelujah" die anderen so sehr, dass es sogar für einen aktuellen Kinofilm als Aufhänger dient.

Ein paar Dinge kann man an dieser Compilation durchaus würdigen, nur eines sei vorneweg genommen: Für komplette Einsteiger ins Werk des großen Dichters eignet sich die Scheibe nicht, für totale Fans und Sammler auch nicht. Sie richtet sich eher an die Leute dazwischen, die Cohen ein bisschen kennen, aber dann doch nicht so wirklich. Die entscheidenden Tunes über Cohens zentrales Lebensthema, das Entrinnen von Beziehungen, der Verlust gewonnener Nähe, die fehlen und mit ihnen einige der relevantesten Evergreens des Kanadiers ("So Long, Marianne", "Lover, Lover, Lover", "Seems So Long Ago, Nancy"). An hart düsteren Perlen, die seine Alkohol-durchtränkte Seele offen legen, mangelt es ebenso ("Stories Of The Street", "Avalanche"), sein schwarzer Humor kommt zu kurz ("First We Take Manhattan"), und auch der Americana-Anteil mit musikalischem Aufmerk-Effekt ("Diamonds In The Mine", "The Captain"), das Scheitern zugunsten von Sünde und Hingabe ("If It Be Your Will") oder die krass starken Songs über die Macht der Musik gegen Alter und Engstirnigkeit ("Tower Of Song", "Jazz Police").

Dafür stellt die Anthologie Punkte heraus, die selten so betont werden: Leonard Cohen hatte auch vor und nach Phil Spector einige prägende Streicher-Arrangements. Die Bögen in "Who By Fire" erzählen eine Geschichte von den Elementen Wasser, Feuer, Luft, von Bewegung und Konflikt, und es ist gut denkbar, dass Nick Caves "Where The Wild Roses Grow" ein wenig von diesem Arrangement inspiriert ist.

Selten hat man einen Singer/Songwriter erlebt, der zugleich in Wortkunst wie auch Komposition so gleichermaßen starkes Talent besaß und unverwechselbare Einzelstücke schuf, und "Famous Blue Raincoat" und "Chelsea Hotel #2" sind extrem reichhaltige Nummern, denen Leonards intimer Vortrag unvergleichlich Gewicht verleiht.

Der Soul- und Gospel-Cohen kommt überproportional zum Ausdruck, weil "Anthem", "The Future", "Thousand Kisses Deep", "In My Secret Life", "You Want It Darker" und "Bird On The Wire" diese Seite zeigen. All diese Songs waren dem dauertourenden Sänger mit dem Schlapphut bis zu seinem Tod wichtig, sie standen Jahre bis Jahrzehnte nach Erscheinen weiter auf den Live-Setlists und haben auch posthum viel Lob verdient.

Der Meister gehört noch mal zitiert, gerade weil sein Song aufgreift, womit die grüne Außenministerin zu ringen hat - Menschenrechte pazifistisch mit Waffen durchzusetzen ist ein Oxymoron, da kann man sich rhetorisch noch so verbiegen, und Cohen sah das kommen. "Anthem" entstand inmitten der Euphorie übers Ende des Cold War im Aufflammen von Irak- und Balkankrieg: "Ah, the wars they will be fought again / The holy dove, she will be caught again / Bought and sold, and bought again / The dove is never free", resümierte der sonst eher unpolitische Künstler pessimistisch. Die Friedenstaube auf dem Cover des '92er-Albums entledigte sich gerade ihrer Fußfesseln. "There is a crack, a crack in everything / That's how the light gets in / We asked for signs / The signs were sent / The birth betrayed / The marriage spent / Yeah, and the widowhood / Of every government / Signs for all to see", da hallt die Warnung und verknüpft Politisches mit Bildern aus dem Privaten. Der Sänger in Cohen kommt hier besonders gut zum Tragen, betten sich seine Vocals - halb Gesang, halb Sprachvortrag - doch in eine anmutige Chor-Darbietung ein. Eine selten gute Hymne des Folkpop-Soul! Cohen pflegte später auf Tourneen einen Teil des Textes anzusagen und der Performance voran zu stellen. Zu Recht, sind die Lyrics doch ein perfektes Spiel mit Metaphern und einer seiner großartigsten Kurztexte.

Auch "The Future" bedeutete Cohen selbst sehr viel, er spielte es bis in die letzte Tour hinein: "Give me back the Berlin Wall / Give me back Stalin and St. Paul / I've seen the future, Brother / It is murder." Nicht nur mit "First We Take Manhattan" nahm Leonard auf gespenstische Weise den 11. September vorweg, mit "The Future" diesen schreckensreichen Tag und die aktuelle Angst vor einem dritten Weltkrieg. Die Analyse des Künstlers ist irgendwie weise: Ja, das Ende des Kalten Krieges schafft Unübersichtlichkeit und neue Bedrohungen. Cohen wäre nicht Cohen, würde er nicht die Weltpolitik mit seiner jüdischen Identität lyrisch verdrahten ("I'm the little Jew / Who wrote the Bible"). Das tiefschürfende Arrangement fährt den harten Kern des Soul auf, wach zu rütteln, die Seele anzusprechen, kirchliche Harmonien zu pflegen. An die Seite von Cohens damals Rauch- und Whiskey-geplagter Stimme gesellen sich orgeliger Bar-Jazz, Backbeat-Schlagzeug und mehrere Background-Sängerinnen (live später auch ein fordernder Memphis Soul-Bass). Demgegenüber fällt mit der Wahl der '92er-Studiofassung für diesen Sampler hier die Entscheidung für eine glatte Variante des Songwriters. So oder so, die sechseinhalb Minuten verdienen ihre Laufzeit.

"Bird On The Wire" bleibt eine unsterbliche Eloge über Liebe und Freiheit und spielt abermals mit dem Motiv eines Vogels. Vom Cohen der Zeit nach 2000 stehen "Recitation w/ N.L. (A Thousand Kisses Deep)", "In My Secret Life" und "You Want It Darker" zweifellos für die eingängigsten, melodiösesten, intensivsten und stimmungsmäßig am dichtesten auf den Pelz rückenden Tracks, nur dass "A Thousand Kisses Deep" hier in der Version ohne Melodie erscheint. "You Want It Darker" scheint Daniel Lanois 2021 zu einem ganzen Gospel-Dub-Album motiviert zu haben, die Ähnlichkeiten verblüffen. Bei "In My Secret Life" gelang es wirklich beeindruckend, das Geheimnisvolle des geheimen Lebens in Tonspuren zu gießen.

Dass das epochale Folk-Liebeslied "Suzanne" nicht fehlen darf, ist Meilenstein-bedingt ein glasklares Must-Have. Ansonsten überspringt die Compilation den Zeitraum zwischens einen Anfängen und den letzten Schaffens- (und Lebens)jahren. Cohens Entwicklung bleibt unter Aussparung der Jahre 1972 bis '82 und 1987-'91 rätselhaft. Den wichtigen Einfluss, den Sharon Robinson, Anjani, Jennifer Warnes und Phil Spector auf ihn und er auf sie hatte, erkennt man nicht. Der Meister war kein Einzelkämpfer, obschon Einzelgänger. Die Compilation erzählt nichts, sie stellt Einzelteile in den Raum. Wie eine Spotify-Playlist, immerhin einigermaßen chronologisch geordnet. Damit kann man angesichts der vielen gigantisch guten Songs dieses Artists nichts verkehrt machen. Da er nun mal einer anderen Ära und eben der Beat-Poetry entstammt, wäre eine erläuternde Klammer verkaufsfördernd.

Und weil jeder Musikfan entweder "Famous Blue Raincoat" oder "Chelsea Hotel #2" kennen muss, sei der Hotelzimmer-Tune erklärt. "Famous Blue Raincoat" ist ein Vortrag in Briefform über einen Regenmantel und über eine Dreiecksbeziehung, "als zeitgeistige Anspielung auf die gebrochenen Herzen der freien 68er-Liebe" hat Alex Klug schon auf den Punkt gebracht. Die Musik ist natürlich auch toll, melancholisch, romantisch, irgendwie Barock. Der Autor persönlich erkennt den Track im Gegensatz zu den Machern des Samplers nun nicht als einen seiner großen Songs an. Die Financial Times zitiert aus einem Interview, das Cohen zum Abschluss seiner ersten Karrierephase 1994 auf dem Abflug in die Auszeit gab: "Das war ein Lied, mit dem ich nie zufrieden war. Ich hatte immer das Gefühl, dass es was an dem Stück gab, das unklar blieb."

"Chelsea Hotel #2" stammt aus dem vierten Album "New Skin For An Old Ceremony", einer stillen LP mit lauter kurzen Akustikgitarre-Banjo-Harfe-Stücken, Cohens unscheinbarsten Werk aus dem alten Jahrhundert. Doch stille Wasser gründen ja tief. "I remember you well in the Chelsea Hotel / You were talking so brave and so sweet / Giving me head on the unmade bed, While the limousines wait in the street. / Those were the reasons and that was New York, We were running for the money and the flesh. / And that was called love for the workers in song." In diesem sehr sanften Stück beschreibt der Meister die Kunst der Verführung. Sein Text ist eine genaue Regieanweisung für ein Video. Er skizziert das nicht gemachte Bett und das Innenleben (Gedanken an Geld, Sex und falsche Liebe).

Was ihn so zeitlos macht, ist, wie er alle Motive von Menschen und was sie anstreben, hinterfragt und als unerreichbar oder sinnlose Sisyphos-Arbeit entlarvt, ohne ins Depressive abzukippen. Mit seiner Sprache, seiner Stimme voller Vertraulichkeit und mit der Kraft der vitalisierenden Musik entlarvt er die Unvollkommenheit und Verlogenheit unserer Zivilisation und verpackt seine eigene Schlussfolgerung in die Traurigkeit der Musik.

Trackliste

  1. 1. Hallelujah (Live, Glastonbury 2008)
  2. 2. Suzanne
  3. 3. Bird On The Wire
  4. 4. Famous Blue Raincoat
  5. 5. Chelsea Hotel #2
  6. 6. Who By Fire
  7. 7. Dance Me To The End Of Love
  8. 8. I'm Your Man
  9. 9. Anthem
  10. 10. The Future
  11. 11. In My Secret Life
  12. 12. Recitation w/ N.L. (A Thousand Kisses Deep)
  13. 13. Show Me The Place
  14. 14. Come Healing
  15. 15. You Got Me Singing
  16. 16. You Want It Darker
  17. 17. Thanks For The Dance

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