laut.de-Biographie
Lila Iké
Sie soll Reggae wieder 'groß' machen, sagt Protoje über Lila Iké. "Das Hauptziel ist es, wenn ich von meiner Tour zurück bin, mich um ihre Produktionen zu kümmern und zu schauen, dass wir mehr von ihr veröffentlichen", meint der jamaikanische Roots-Erneuerer im Sommer 2017 über seine Background-Sängerin.
Zu diesem Zeitpunkt bezeichnet Lila auf ihrer ersten Single "Biggest Fan" ihre Mama als ihre größte Anhängerin. Doch erste Auftritte und Aufnahmen zeigen, dass sie weitere Sympathisanten anzieht, erläutert Protoje: "Die Leute mögen sie, ihre Ausstrahlung, sie ist brillant, es ist aufregend, mit ihr zu arbeiten, und es umgibt sie etwas Star-Artiges. Mich erinnert sie auf gewisse Art an Garnett Silk. Sie beeindruckt mich. Es war sofort magisch, als wir anfingen, zu arbeiten. Ich liebe ihren Vibe, und wie frei sie ist! Und ihren Ansatz, wie sie Musik auffasst!"
Jener Garnett Silk stirbt bereits in dem Jahr, als Lila Iké zur Welt kommt. Das Pseudonym spricht man Lee-lah Eye-kay. Protoje wendet einige Geduld für Aussprache-Übungen auf, als er seinen Schützling in Europa vorstellt.
Rückblende: Garnett gilt in den späten 80ern und frühen 90ern als potentieller nächster Bob Marley. Nach Marley dringt vor allem Slackness-Dancehall in die Welt hinaus, Garnett Silk schlägt mit seinem Vibrato-Timbre und seinen Bewusstsein weckenden Texten über soziale Themen einen anderen Weg ein. Der antizyklische Ansatz Silks sowie seine 'Golden Voice' zeigen in der Tat Parallelen zu Lila Iké.
Während der Sänger damals mit den großen Produzenten seiner Zeit arbeitet, lauten die Namen bei der jungen Hoffnung der 2020er Jahre unter anderen dann Protoje, Philip 'Winta' James (oft im Umfeld von Protoje zugegen), Izy Beats (bekannt von Koffee) und Lamont Savory. Letzterer diente als Gitarrist für Etana, Barrington Levy, Jah Cure, fürs Lebende-Legenden-Projekt Inna De Yard und auf dem Song "Good Tomorrows" von Patrice.
Lila, geboren am 23. Januar 1994 als Alecia Grey, wächst, wie Garnett Silk, auf dem Land in Jamaikas Bezirk Manchester auf. Sie dockt ans Roots Retro Revival der frühen 2010er an, trägt Vintage-Klamotten der frühen Neunziger im Wechsel mit Business-Outfits, auf der Bühne aber auch mal Astronauten-Look, und bedient sich der großen alten Roots-Dub-Klassiker: Die Basslinie aus "Sponji Reggae" (1981) von Black Uhuru hält für ihre zweite Single "Gotti Gotti" her. "Gotti Gotti", eine der Patois-Wendungen bei Lila, heißt in etwa 'want to have', ein tiefgehendes Lied über die Arm-Reich-Spaltung und materiellen Hoffnungen auf der Insel.
Für "Thy Will" greift sie auf Sly & Robbies "More Baltimore" (1980) zurück. Den "Promised Land"-Riddim (1979) von Dennis Brown und Aswads Version davon ("Love Fire", 1983) recycelt die Newcomerin für ihren Song "Second Chance" über ein zweites Sich-auf-den-ersten-Blick-in-dieselbe-Person-Verlieben. Die Themen der souligen Dubberin variieren. Da gibt es den Stress der digitalen Medien ("Forget Me", "Solitude") mit Textstellen wie "One bag of unanswered calls / You're reading my text / Still nah respond" über sie als Anruferin und "Airplane mode / how the life yah so sweet / Come a ring off me line / Seven days of the week" über sie als Angerufene, die in den Flugmodus schaltet, um sich ein bisschen Lebensqualität zu bewahren.
"Where I'm Coming From" schöpft aus ihrer spirituellen Erziehung und dem ruhigen Leben in der Provinz, wo sie aufwuchs. "Dort ist es immer kalt, die Temperaturen sind niedriger als anderswo auf der Insel. In meiner Kindheit ging es viel die Hügel der May Day Mountains rauf und runter, da habe ich viel Zeit zugebracht. Habe versucht, Mangos zu ernten. Es gibt da viel Bartbuschsträuche, es ist sehr ländlich. Ich bin bei meiner Mutter und meiner Oma aufgewachsen und habe viele Storys über die Vergangenheit gehört. Meine Großmutter hat mir zum Beispiel erzählt, wie sie dort ohne elektrische Kühlung Eis aufbewahrten. Sowas fand ich faszinierend. Es war ein gutes Leben auf dem Land."
Lila fängt ein Studium an, möchte Lehrerin werden. Nebenbei freestylt sie auf Songs, schreibt das ein oder andere. Doch wer auf dieser Insel will nicht alles Musikstar werden? Dass sie zu den Auserwählten gehören könnte, ist ihr anfangs nicht bewusst. Protojes Tourmanagerin, die mit ihr zur Schule ging, erinnert sich ans kabarettistische Talent von Alecia a.k.a. Lila und macht sie mit dem Sänger bekannt, als dieser gerade den Erfolg seines Albums "Ancient Future" erlebt, andererseits aber bemerkt, dass er nicht der beste Live-Artist ist. So stiehlt ihm etwa Sevana, seine Background-Sängerin und Duettpartnerin auf zwei Stücken, bei so manchem Konzert die Schau und singt die eigentlichen Höhepunkte.
Zudem erkennt Protoje den Frauenmangel im Reggae – für ihn als Sohn einer der ersten namhaften Reggae-Sängerinnen Jamaikas kein Naturphänomen. Er ändert seine Strategie – das Ziel bleibt: "to make reggae great again", jetzt aber mit Frauen an der Front. Nachdem er mit Lila bekannt gemacht wird, überlässt er ihr ein paar Zeilen auf "Flight Plans" (2016). Der Song zündet als Teil eines Free Download-Mixtapes und wird für einige Zeit zur Mitsingnummer auf Protojes Shows. Lila schnuppert ein bisschen im Camp von Bebble Rock bei Kabaka Pyramid ("Got It For You" mit Koro Fyah), auch beim deutschen Produzenten Tim Foresta ("Believe"), dann entwickelt sich Protoje, immerhin Aushängeschild des Roots-Revivals, zu ihrem Mentor.
Ein auf YouTube stark gepushtes Video des Schweizer SRF-DJs Lukie Wyniger mit einem Lila Iké-Freestyle geht viral und zeigt sie, nunmehr Studienabbrecherin, als Rampensau, die sich schnell und spontan eine Bühne erobern kann. Herumspringen, rudernde Bewegungen, Einreden aufs Publikum und grelle Outfits zählen zum Handwerkszeug bei ihrer ersten Europatour. Das Reggae Jam Bersenbrück und Reggae in Wulf buchen sie 2020 für Deutschland, später ziehen Reggaeville Easter Special und Summerjam nach, und käme nicht Corona dazwischen, würde es wohl raketenartig weiter gehen. Koffee hatte bereits im Vorjahr gezeigt, dass exportfähige Reggae-Vibes von Frauen kommen können und eine Männerdomäne schnell gebrochen ist. Lila bringt derweil schon einiges mehr an Lebenserfahrung, Selbstkritik und musikhistorischen Kenntnissen, auch höhere Bildung und einen breiten Sprachschatz mit.
Für den weiteren Weg lässt sich der Sony-Konzern, bis dato nur in Deutschland mit Gentleman auf dem Reggae-Markt aktiv, auf einen weltweiten Vertriebs-Deal mit Protojes Mini-Label ein. Dieser Schritt wird Lila vielleicht zur ersten wirklichen Queen of Reggae pushen – ein steiler Anfang für jemanden, der nur zufällig ins Musikbusiness hineinrutschte.
Im Herbst 2021 erlebt die Sängerin einen schweren Fall von Cybermobbing und Homophobie. Sie wird unter Druck gesetzt, dass man ihre sexuelle Orientierung (und die einer engen Kollegin) und ihre Beziehung zu einer Frau in Social Media öffentlich mache. Lila kommt dem zuvor, indem sie sich selbst auf Instagram 'outet'. Den Musik-Output bremst der ganze Vorfall. Zudem erkennt die Roots-Welt, dass sich selbst in den 2020er-Jahren noch immer krasse und starre Vorurteile aus dem Zeitalter der christlichen Missionierung auf der Insel halten.
Ihre Tracks "Batty Rider Shorts" und "True Love" machen wiederum hungrig auf die vielen ausstehenden Europa-Termine der Newcomerin, bei denen sie von Juli '22 bis April '23 auch in Deutschland ihre lebhaften und extrovertierten Wirbelwind-Shows darbietet.
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