laut.de-Kritik
Lass' alle reden und andere singen!
Review von Sven KabelitzMögen die ersten Jahre noch von Neuentdeckungen geprägt sein, besteht das Leben später recht schnell im Wesentlichen aus Abschieden. Das letzte Mal auf einen Baum klettern, das letzte Mal mit Freund:innen in den Club, das letzte Mal mit den Eltern essen gehen. Normalerweise schleichen sich diese Entwicklungen so langsam ein, dass man es gar nicht merkt. Für Menschen mit Einschränkungen und Behinderungen kommen diese jedoch abrupter, deutlicher. Wenn man plötzlich nicht mehr sprechen, nicht mehr schreiben, nicht mehr laufen kann, verändert dies das ganze Leben.
Aufgrund einer spasmodischen Dysphonie kann die britische Folk-Sängerin Linda Thompson nicht mehr singen, oft kaum noch sprechen. Erste Anzeichen zeigten sich bereits in den frühen 1980ern, als das Duo Richard and Linda Thompson in den letzten Atemzügen lag. Mit ihrem Ex-Ehemann, dem ehemaligen Fairport Convention-Sänger und -Gitarristen, veröffentlichte sie anerkannte Folk-Alben wie "I Want To See The Bright Lights Tonight" und "Shoot Out The Lights", bevor sich die beiden unschön trennten. Nach einer langen Pause konnte die Sängerin dank einer Botox-Behandlung noch ein paar Solo-Longplayer folgen lassen, bevor sie mit dem Album "Won't Be Long Now" 2013 verstummte.
Was also machen, wenn man neue Songs, aber keine Stimme mehr hat? Man ruft seine Familie und Freund:innen für ein gemeinsames Abenteuer zusammen und lässt sie die Sache mit dem Singen stellvertretend übernehmen. Zu den Geladenen gehören Rufus Wainwright, John Grant, The Proclaimers und Thompsons Ex Richard, der mit "Ship To Shore" dieses Jahr ebenfalls ein Album veröffentlicht hat. So entsteht "Proxy Music", eine Art Tribute-Album mit bisher unveröffentlichten Songs.
Thompsons lebendige Texte können tief traurig sein, voll Herzschmerz und Bedauern, nur um plötzlich zu einem Humor zu wechseln, über den wohl nur 76-jährige Menschen verfügen, die mittlerweile auf alles scheißen. Vor allem aber auf die Meinung anderer Leute. Nichts verdeutlicht dies mehr als das Cover des Longplayers, eine Verballhornung des bekannten ersten Roxy Music-Albums.
Anstelle von Kari-Ann Moller räkelt sich nun Linda Thompson herself in den Laken. Inklusive leicht wunderlichem Grinsen. "Der Fotograf sagte dauernd: 'Mach es so, wie sie es macht', und ich konnte nicht", erklärt Thompson in einem lesenswerten Interview dem Guardian. "Ich hatte Bananenkuchen gegessen und ich glaube, ich hatte so eine Art Zuckerrausch. Ich finde es urkomisch. Das Originalcover ist so bescheuert, ich dachte, ich mache es noch schlimmer." Jedenfalls zieht das Bild sofort Aufmerksamkeit auf sich. Nicht das schlechteste, das man erreichen kann.
"I had a voice clear and true", stellt der von ihrer Tochter Kami gesungene Opener "The Solitary Traveller" gleich mit seiner ersten Zeile unmissverständlich fest. Es folgt eine Geschichte, in der die garstige Hauptfigur die Liebe ihres Partners und des gemeinsamen Kindes verliert. Wer nun aber denkt, Thompson gehe als Verliererin aus diesem melancholischen Walzer-Schunkler mit Kirmes-Flair hervor, hat sich deutlich geschnitten. "I'm alone now / You'd think I'd be sad / No voice, no son, no man to be had / You're wrong as can be boys / I'm solvent and free boys / All my troubles are gone."
Wen lässt man am besten einen Song singen, den Thompson aus Bewunderung für die Arbeit des ehemaligen The Czars-Sängers John Grant schrieb und auch nach diesem benannte? Richtig, John Grant, höchstselbst und persönlich. So findet sich dieser plötzlich hinter dem Mikro wieder, die Zeile "John Grant took my heart away to Reykjavik / I hope he takes care of it" singend. Malkovich, Malkovich. Dank des Einsatzes eines Roland Juno-60 bekommt der 1970er-Folk-Song plötzlich einen deutlichen "Moon Safari"-Einschlag, den eine Pedal Steel-Gitarre erfolglos zu unterbinden versucht.
Gemeinsam trinken Thompson und Grant Tee und naschen Kuchen: "A moment on the lips / A lifetime on the hips." So einfach kommt das Lied dann jedoch nicht weg: Bevor Grant zurück zu den Fjorden seiner heutigen Heimat fährt, nutzt er es, um die Trauer um seine verstorbene Mutter zu verarbeiten: "He was absent on the night his mother died / ... / But I do know he was there, really / And she knew it." Einer der schönsten Songs des Jahres und der bizarre Höhepunkt auf "Proxy Music".
Schon die Rolling Stones erkannten in ihrem besten Song - ein Lied, eigentlich zu groß für diese Band - dass die Zeit auf niemanden wartet: "Time Waits For No One", auch nicht auf Linda Thompson, die das ergreifende "I Used To Be So Pretty" in die Hände der Sängerin Ren Harvieu und ihres Ex Richard Thompson an der Gitarre legt. Ein makelloser Gänsehautsong voll persönlicher Trauer. Düster und ehrlich, ganz ohne Netz, doppelten Boden oder versöhnlichen Twist rechnet sie mit dem eigenen Verfall ab: "I'm ten miles from the city / The fare is too much for me / And the walk home is going to hurt my feet / ... / I've a mailbox full of bills / And a mouth full of pills."
Noch einmal zurück zum Guardian-Interview: "Oh, es ist einfach beängstigend, in diesem Alter zu sein – es ist das Alter, in dem man stirbt, in dem alle Freunde sterben", äußert sie sich dort. "Ich meine, es ist einem scheißegal, was die Leute über einen denken, und das ist gut, aber die Sache mit der Altersweisheit ist ein Trugschluss. Man wird einfach dümmer, man kann sich an niemandes Namen erinnern. Das ist also völliger Blödsinn."
Der zärtlichen Piano-Ballade "Or Nothing At All" leiht Martha Wainwright ihre herrlich vernarbte Stimme. Ihr Bruder Rufus schnulzt sich dagegen in einer atmosphärisch zwischen den Folk-Stücken etwas deplatziert wirkenden Jazzclub-Nummer durch eine Beziehung zu einem jüngeren Mann. Im wundervollen "Mudlark" gleiten The Rails - bestehend aus Kami und ihrem Ehemann James Walbourne (Pretenders) - mit Leichtigkeit durch strahlende Vokalharmonien. Ein einziges Mal, kaum vernehmbar, hört man hier die Stimme von Linda Thompson selbst.
Auf "Proxy Music" legt Thompson die meist mit ihrem Sohn Teddy oder James Walbourne geschriebenen Lieder nicht einfach in die Hände anderer. Vielmehr zeigt sie großes Gespür dafür, welcher Track zu welcher Person passt. So entsteht trotz der unterschiedlichen Stimmen ein zumeist einheitliches Bild. Das abschließend von Teddy Thompson gesungene "Those Damn Roches" fasst den Longplayer und die Familienmentalität noch einmal zusammen: "When we are singing loud and strong / Who can take us? / Bound together in blood and song / Who can break us?"
3 Kommentare
Dann lieber Michelle
Herrlich altmodisch und außergewöhnlich interpretiert.
Ein wunderbares Album. Danke für den Tipp. Die 5 Sterne sind aus meiner Sicht völlig gerechtfertigt.