laut.de-Kritik
It's better to fade away than to burn out.
Review von Dennis RiegerEin Mann steht am Strand, blickt gen Horizont. Neben ihm seine Schuhe und ein Liegestuhl mit Blümchenmuster, hinter ihm ein Sonnenschirm in ebenjenem Muster, eine Zeitung mit der Schlagzeile "Senator Buckley calls for Nixon to resign" und im Sand vergrabene Überreste eines Cadillacs. Und vor sich? Nicht nur der Pazifik, sondern auch eine ungewisse Zukunft. Der Name des Mannes: Neil Young. So ikonisch wie seine Musik ist auch das von Gary Burden entworfene Cover zu "On The Beach". Heckflosse, Kotflügel und Rücklichter des Cadillacs finden Young und Burden auf einem Schrottplatz in Santa Ana und verbuddeln sie im Sand.
Was trieb Young 1974 an einem wolkenverhangenen Tag, der all jene Lügen strafte, die behaupteten, im Süden Kaliforniens regne es nie, an den Santa Monica State Beach? Was ließ ihn und seine Mitstreiter den siebenminütigen Titeltrack, die vielleicht traurigste Jam-Session der Musikgeschichte, aufnehmen? Schließlich landete die Songwriter-Ikone zwei Jahre zuvor mit "Harvest" auf Platz 1 der US-amerikanischen, kanadischen, britischen, australischen, niederländischen und norwegischen Albumcharts, lieferte mit "Heart Of Gold" die Lagerfeuerhymne schlechthin.
Der Barde selbst will der Medienmeute keine klaren Antworten geben: "I went to the radio interview / But I ended up alone at the microphone." Lieber verliert er sich in Metaphern von außergewöhnlicher Schönheit und lässt ansonsten seine Gitarre, Ben Keith nebst Ralph Molina an der Percussion und Graham Nash am Wurlitzer Electric Piano den eigenen Gemütszustand artikulieren. Aus jedem Akkord und jeder Silbe spricht die Sprache der drogenschwangeren Selbstreflexion, der Einsamkeit und des Kontrollverlustes: "All my pictures are falling / From the wall where I placed them yesterday."
Nach der Veröffentlichung von "Harvest" sterben mit Crazy Horse-Gitarrist Danny Whitten und Roadie Bruce Berry gleich zwei Weggefährten Youngs, zweitgenannter an einer Überdosis. Aus Erfolg und Publikumsliebe folgt nicht zwangsläufig Glück, die Leichtigkeit der durch die Wolken schwebenden Möwen bleibt außer Reichweite. Daran können auch die "Honey Slides", angebratene, mit Honig übergossene Marihuanablüten, nichts ändern, so oft Young es auch probiert.
Bereits in der ersten Albumhälfte schaffen Young und seine Band schmucke Sandbauten. Der flotte Opener "Walk On", gleichermaßen ein Giftpfeil an Kritiker wie eine Ode ans Weitermachen, weckt mit seiner Slidegitarre noch falsche Erwartungen. Doch "See The Sky About To Rain" nimmt das Tempo raus, verdeutlicht mit Young am Wurlitzer Electric Piano, warum gleich drei der acht Songs auf dem fünften Studioalbum des Godfather of Grunge das Wort Blues im Titel tragen. Ein Jahr zuvor hatten sich die Byrds den Track noch so massengefällig wie inspirationslos angeeignet. Nun beweist Young, warum das Covern seiner Songs mit dem Nachmalen eines Gemäldes von Caspar David Friedrich vergleichbar ist und selten zufriedenstellende Ergebnisse hervorbringt: Nur tief empfundene Emotionen lassen Meisterwerke der Melancholie entstehen.
Ein solches ist auf seine eigene Art auch der rockige "Revolution Blues", der über die Manson-Morde aus der Sicht der Täter erzählt und dabei weder glorifiziert noch verurteilt, sondern mit Rick Danko am Bass und Levon Helm an den Drums den Wahnsinn der Mörder verstörend groovig in Töne fasst. In der schrägen Country-Nummer "For The Turnstiles" äußert sich der Freigeist mit Banjo-Unterstützung über das Tourleben, bevor er im "Vampire Blues" einen gierigen Ölmogul das eigene frevle Werk an Mutter Natur zynisch kommentieren lässt: "I'm a vampire, baby, suckin' blood from the earth."
Der Titeltrack eröffnet die überragende zweite Albumhälfte, Youngs gedankenverlorene Zeilen und die hypnotische Percussion lassen einen im Sand versinken. Angesichts seiner Platzierung zwischen zwei übergroßen Longtracks wird das minimalistische "Motion Pictures (For Carrie)" hingegen oft vergessen – zu Unrecht, handelt es sich bei Youngs im Drogenrausch geschriebenem Abschiedslied an seine Partnerin Carrie Snodgress doch um eine seiner schönsten Balladen. Nach einigen auf verquere Art schönen Sprachbildern lässt "I'd rather start all over again" keinen Zweifel mehr, worum es in diesem häufig übersehenen Kleinod geht, ehe Young an der Mundharmonika ein trauriges Farewell anstimmt. Den vorübergehenden Abschied von uns Hörerinnen und Hörern lässt die Songwriter-Legende aber noch folgen: Fast neun Minuten lang sinniert Young über "the old folky days", Isabela, eine personifizierte Pension in Toronto, die nur sie selbst ist, wenn sie Make-up trägt, einsame Rezensenten, Gegen-den-Wind-Pinkler, Richard Nixon und vieles mehr. Dass all das weder prätentiös noch langatmig oder gar albern gerät, sondern fasziniert, verdankt man Youngs unverwechselbarem Timbre und Rusty Kershaw, der an der Fiddle dem "Ambulance Blues" seinen einzigartigen Charakter schenkt. Kann es einen schöneren Song zum Einschlafen geben als jenen, der nach knapp neun meditativen Minuten einfach abbricht?
Die Masse schwärmt weiterhin von "Harvest", sieht angesichts der die Zeit überdauernden Lagerfeuerhymne über arg süßliche Arrangements des London Symphony Orchestra und eine nicht eben kohärente Songzusammenstellung hinweg, während das Gros der Kritiker den musikalisch und lyrisch orthodoxeren "On The Beach"-Bruder "Tonight's The Night" als vermeintlich bestes Young-Album seit Jahrzehnten auf die vorderen Plätze der Bestenlisten setzt. Doch der am hellsten strahlende Schatz der youngschen Diskografie wurde zwischen jenen beiden Studioalben gehoben.
"It's better to burn out than to fade away", verkündet Young fünf Jahre später im Opener und Closer von "Rust Never Sleeps". Er sollte es besser wissen. Anstatt im Mühlrad der Rock-Gigantomanie den neuesten schnelllebigen Trends hinterherzurennen und auszubrennen, gönnte er sich nach seinem kommerziellen Welterfolg eine Pause am wolkenverhangenen Santa Monica State Beach, atmete durch, verschwand eine Weile – um mit acht Perlen im Gepäck zurückzukehren, die eines der poetischsten Alben der Rockgeschichte ergeben.
In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.
2 Kommentare
Ich liebe diese Platte!
viel gelobt, nettes Cover. Mir sagt dieses Album wenig. Der Vorgänger Harvest ist im Grunde das letzte Album seiner starken Phase. Mit On the Beach kommt eine Reihe Alben, die dadurch auffällt, dass jedes Album nur einen Song enthält, der es wirklich über das Album hinaus schafft zu bestehen. Tonights the Night, Cortez, Like a Hurricane,..
Auf On the Beach sind für mich 2 richtig gute Songs zu verorten: das Titelstück und Revolution Blues.