laut.de-Kritik
Die Wurzeln der Punk-Provokateurin beim DDR-Label Amiga.
Review von Philipp KauseAls Nina Hagen mit 18 in der DDR ihre Karriere beginnt, möchte sie "mit Musik die weite Welt erobern", wie sie der FAZ später erzählt. Sie kann bereits Gitarre spielen, macht eine Gesangsausbildung und darf sich 'staatlich geprüfte Schlagersängerin' nennen. Der erste 'Schlager' heißt "Du Hast Den Farbfilm Vergessen" und parodiert das Genre. Dass man die Nummer rauer gestalten und den satirischen Ansatz deutlicher ausspielen kann, zeigt sich nach der Wende, als der Remix "Du Hast Den Farbfilm Vergessen (Koda Color Mix '92)" nachrutscht.
Nina war entdeckt worden. Das Label Amiga wollte sie. Zuerst mal. Dabei war dem Regime bekannt, dass ihr Stiefvater der systemkritische Liedermacher Wolf Biermann ist, wenngleich er auch nicht mit Ninas Mutter verheiratet war. Infolge seiner Ausbürgerung geht Nina in den Westen. Viele ihrer ersten Songs erscheinen nur als Singles. Rasch werden sie nicht mehr gepresst. Auf der Compilation "Was Denn ..?" erscheinen diese frühen Aufnahmen aus der Zeit '74 bis '76.
Als einige von ihnen entstehen, tobt bereits der Punk in London. Davon, und auch vom Funk übernimmt Nina zuvor schon einiges in ihre Musik. Wie auch Neneh Cherry geht Nina dann '77 bei The Slits in die Lehre und hält sich in England auf. Die Affinität zu beiden Stilen, Punkrock und Funk, lässt sich in "Das Kommt Weil Ich So Schön Bin" heraushören. "Und wenn ich eines Tages mal den Super-Kunstpreis krieg, dann finde ich das triumphal", röhrt Nina. Dann schreit sie zwei Mal laut auf, um die Reaktion des Publikums bei der Preisverleihung wiederzugeben. Ergötzt an der eigenen Schönheit geht die Eigenliebe in zittrige Töne und Berliner Dialekt über "weil i-hi-hi-hich so schö-ö-ö-ön bin / das weiß ichjanzjenau", bis sie atemlos keuchend die Vorführung beendet.
Der Song "Rangehn" existiert später auch als internationale Aufnahme, vom Schlagzeug dominiert, mit Bezug zu Honkytonk und einem äußerst sportlichen Gesangs-Quieken-Spoken Word-Vortrag. Da rollt Nina das "R" in "Rrrrangehn" und wird im Text sehr direkt sexuell "Wenn du scharf bist / musst du rangehn". In der "Rangehn (Amiga Version)" hört man ein anderes Lied. Gitarrentechnisch klingt diese Fassung, die erste also, weitaus interessanter, selbst wenn die Lead Guitar dumpf in den Hintergrund gemischt ist. Textlich geht es weniger um das physische Rangehen, an die 'Wäsche'. Eher darum, ans Telefon zu gehen. Diesen Eindruck legen neben den Textänderungen auch die Intonation und Ninas Betonungen nahe – das bleibt aber dem Hörer überlassen.
Fast eine Minute länger läuft der Track in der Ostversion. Er steuert am Ende auf eine mutige kakophonische Explosion aus Schreien, Hecheln, Stöhnen, penetrantem Background-Chor und spitzen Klavier-Obertönen zu. Alles zusammen kann man schon als orgiastisch empfinden.
Das jazzrockige "Zieh Die Schuhe Aus" mit der Amiga-Gruppe Stern-Combo Meißen sollte schon wegen der Gitarrenführung der Welt zur Verfügung stehen. Es gab zwar ab Ende der Neunziger immer wieder Sampler, auf denen der Song enthalten war, doch diese waren schnell ausverkauft und kursieren nur noch in wenigen Second Hand-Exemplaren zu horrenden Preisen.
Immer wieder fällt auf, welch kreativen Output die DDR hatte und wie viel davon in Archiven ruht. Den Stakkato-unterlegten Rock'n'Roller "Mama" und das P-Funk-jazzige "Komm Komm" enthielt bereits das Best-Of "Was Denn… Hits '74-'95". Darauf, nur als CD erhältlich, finden sich auffallend viele Titel jener Frühphase. Sogar elf der hier 2020 neu kompilierten Songs versammelt die damalige CD bereits. Sie fasste die Tracks chronologisch zusammen, die neue CD tut dies dagegen eher dramaturgisch und macht ein schlüssiges Album daraus: von den sexuell expliziteren Nummern bis zu den musikalisch experimentellen wie dem schrägen Chanson "Wenn Ich An Dich Denk".
Als Highlight sticht das bis dato nur auf ein paar fast vergriffenen CD-Samplern kursierende "Ich Bin So Alt" heraus. Nina singt auf Sächsisch, und ahmt auch das Englisch mit sächsischem Akzent nach, "let's get together again". Wirklich neu ist diese Compilation als MP3- und Vinyl-Veröffentlichung. Dazu muss man wissen: Der Acid-Jazz-geprägte Nach-Wende-Remix "Du Hast Den Farbfilm Vergessen (Koda Color Mix '92)" fehlt wiederum auf der Vinyl-LP.
Was sich später in Ninas Musik alles wiederfindet, wurzelt in diesen frühen Songs fürs DDR-Label Amiga, von denen etliche in Film-Soundtracks Verwendung fanden. Dass man kein Album von ihr wollte, lag vielleicht nicht nur an ihrer Nähe zu Wolf Biermann. Die Musik war selbst aus West-Blickwinkel so progressiv, dass sie dem Kulturministerium womöglich zu weit ging. "Was Denn ..?" ist Nina Hagens erstes Album, das es nie gab.
1 Kommentar mit 2 Antworten
Was für einen Werdegang die ehrenwerte Frau Hagen wohl ohne Herrn Biermann als Stiefvater genommen hätte?
Der Blick auf ihre, mir weitgehend unbekannte, musikalische Vergangenheit macht auf jeden Fall mächtig Laune!
Vor allem wenn man sich danach ihr legendäres Live Konzert von 1978 anschaut.
Fazit: „tolle Frau 5/5 Respektpunkte“
Ps. Ist eigentlich überliefert ob der Grund für die Trennung von ihrer „Hausband“ (spätere Spliff) wirklich ihre „zickige Abgehobenheit“ war?
Manchmal kommen viele Jahre später ja doch noch andere Aspekte zum Vorschein.
Der Name des 2. Albums "Unbehagen" hatte seinen Grund...
https://de.wikipedia.org/wiki/Nina_Hagen_B…
Überliefert ist auch, dass die vier Bandkollegen sich in West-Berlin für den Kommunismus engagierten und Nina als Dissidentin sahen. Zeitlich war es wohl so, dass Nina da bereits die Zusage für einen Vertrag mit CBS/Columbia hatte - wenn sie denn eine Band findet. Die Herren sahen das als Sprungbrett, aber begeistert waren sie wohl von Anfang nicht.