15. Mai 2005

"Heute sehen wir aus wie Pussies"

Interview geführt von

Overkill-Frontförster Bobby "Blitz" Ellsworth ist trotz Krebserkrankung, Hirnschlag und Motorradunfälle nicht nur fit wie ein Turnschuh, sondern auch einer der lebenslustigsten Menschen im ganzen Musik-Universum. Nach einem unglaublichen Auftritt auf dem Rock Hard Festival 2005 bietet sich noch eine Gelegenheit zum gemeinsamen Plausch.

Meine Fresse, nach der Show, die ihr da gerade abgeliefert habt, beneide ich Sentenced nicht gerade, dass sie nach euch auf die Bühne müssen.

Das war gar nicht schlecht, oder? (In dem Moment werden wir ein wenig weiter nach hinten in den Gang gescheucht und stehen schließlich vor der Damentoilette.) Hm, scheint so, als sähen wir heute ein wenig nach Pussies aus, hahaha. Egal, wenn du auf so einem Festival spielst, ist alles immer etwas chaotisch. Kein Soundcheck, keine Vorbereitung, es heißt einfach irgendwann "GOOOOOO!" hahaha. Und dann rennst du raus und legst los. Aber du hast Recht, das Publikum war heute extrem gut drauf.

Ihr habt ja auch von Anfang an Gas gegeben und aus allen Rohren gefeuert.

Das ist doch auch die Idee hinter so einem Festival, dass man sich gegenseitig immer höher pusht. Du nimmst die Energie der Fans auf, bringst sie in deine Show ein und stachelst die Menge damit um so mehr an. Die Energie wird quasi immer hin und her transformiert, das hat heute extrem gut geklappt.

Die Jungs vom Rock Hard haben sich auch kaum mehr halten können vor Begeisterung.

Ja, stimmt, wir sind alles gute Freunde, seit ich ihren Arsch ein paar Mal in New York vor irgendwelchen Gangs gerettet habe, buahahaha.

Ihr habt einen neuen Drummer, wie ich gesehen habe. Was ist mit Tim?

Der hat die Band quasi drei Tage vor der Tour verlassen, weil er sich um seine Familie und seinen Job intensiver kümmern will. Er hat geheiratet, und die Kinder seiner Frau haben auch schon Kinder, weswegen er so was wie ein Instant-Grandpa ist. Sozusagen von Overkill zur Social Security, buhahaha. Eines seiner Stief-Enkelkinder ist sehr krank, und da möchte er eben da sein, um seine neue Familie zu unterstützen, und das respektieren wir voll und ganz. Es kam deswegen immer wieder zu ein paar Konzertabsagen, und da wir wussten, dass so was wieder passieren kann, haben wir eben mit Ron Vorbereitungen getroffen. Er war schon oft bei Shows von uns und saß auch backstage mit uns zusammen. Dan Lorenzo von Hades (Rons Ex-Band) hat ihn uns vorgestellt. Er kommt auch aus New Jersey, wir verstehen uns super. Hoffentlich bleibt er bei uns. Wir haben einfach alle die selbe Mentalität aus High Level Energy, ernsthafter Verbundenheit und etwa 35% Kriminalität, buahahaha. So ähnlich wie bei den Sopranos, hahaha.

Momentan seid ihr auf Tour in Deutschland, wie lange spielt ihr da jeden Abend?

Etwa 90 Minuten, und das quasi jeden Abend. Es ist schon hart, eine Songauswahl für 90 Minuten zu treffen aber wenn wir wie heute nur eine Stunde haben, ist es noch viel härter. Wir haben etwa 140 Songs, wähl da mal zehn bis zwölf aus, ohne dass sich einer angepisst fühlt, weil du einen bestimmten Song nicht gespielt hast. Das ist unmöglich! Wir versuchen also ein paar Alltime-Favorites zu spielen und richten uns ansonsten nach unserem eigenen Geschmack.

Ich hab mich ja beinahe nass gemacht vor Freude, dass ihr "Old School" gespielt habt. Der Song läuft bei uns jedes Mal in der Radioshow, und ich habe ihn als mp3 auf meinem Handy als Klingelton.

Als ich den Text zu dem Song geschrieben habe, erinnerte ich mich an unsere Anfänge in einem Club in New Jersey, in dem wir bald so was wie die Hausband wurden und vor tausend Leuten gespielt haben, ohne eine Plattenvertrag. Der nächste Schritt nach vorne war das Ritz, und das coolste dabei war dann, dass ich endlich etwas hatte, was ich mit meinem Namen Blitz reimen konnte, buahahaha.

Ein kleiner Egomane, hä? Wer hatte denn die Idee für diesen Song?

D.D. ist ein alter Punk. Vor Overkill spielte er schon in einer Punk-Band namens The Lubrucunts, die sich schwer an den Ramones orientiert hat. Im Grunde seine Herzens ist D.D. ein Punk, der vorgibt, in einer Metal-Band zu spielen. Wir hatten schon immer ein paar Songs, die definitiv mehr Punk als Metal waren, von der "Fuck You"-Coverversion ganz zu schweigen, die fester Bestandteil jeder Show ist. Wir wurden schon oft von unterschiedlichen Leuten gefragt: "Seid ihr ne Punk- oder ne Metal-Band", und wir konnten nur antworten: "Keine Ahnung, Mann. Vielleicht finden wir das mit der Zeit raus, aber es ist uns auch scheißegal." Als ich das Demo zu dem Song hörte, habe ich mich halb tot gelacht, weil D.D. den Chorus singt, und er hat nicht gerade die Stimme eines Vogels, buahahaha.

Na ok, aber es passt doch super, und außerdem kommt das ja auf den Vogel an, oder?

Stimmt, er klingt wie 'n toter Vogel, muahahaha. Aber du hast schon recht, es funktioniert so echt gut. Ich denke, das liegt auch daran, dass Overkill musikalisch und technisch nie perfekt waren und es auch gar nicht sein wollten. Dafür hatten wir immer diesen X-Faktor, und dieser X-Faktor ist die Energie. Diese Energie kommt wohl einfach aus dem Punk. Ich weiß noch genau, wie ich die Ramones zum ersten Mal im CBGBs gesehen habe. Das war vor 40 Leuten, und die Energie war unglaublich. Dabei standen die Jungs auf der Bühne und haben angefangen, sich zu streiten. Joey stand da oben und sagte: "Ok, der nächste Song ist 'Blitzkrieg Bob'", und von D.D. Ramone kam nur: "Nö, 'Blitzkrieg Bob' spiel ich nicht." "Was? Du musst das verdammt noch mal spielen!" "Mach ich aber nicht." "Es steht aber zwei gegen einen!" Das Publikum stand da, und die Blicke gingen hin und her wie bei einem Tennismatch. Das war der Hammer, hahaha. Dann ging's wieder "One, two, three, four" und sie legten los. Aber zu den Ramones hab ich noch eine Anekdote. Wir hatten gerade einen unserer ersten Gigs, ebenfalls im CBGBs, und Joey Ramone sollte uns ankündigen. Ich war total nervös und aufgeregt, weil Joey einfach eines meiner Idole war. Er ging also raus auf die Bühne, schnappte sich das Mikro und meinte im gelangweilten Ton: "Ok, Leute, hier spielt jetzt gleich eine Band aus New Jersey. Die heißen, glaube ich, Overkill, und ich habe keine Ahnung, wie die überhaupt klingen. Macht euch einfach selbst ein Bild davon." Damit schlappte er wieder von der Bühnen und krallte sich das nächste Bier. Ich dachte nur: "Du blöder Arsch, 'n bisschen mehr Enthusiasmus wäre schon drin gewesen, oder?" hahaha.

Momentan sind sowohl Anthrax als auch Testament mit einem Line-Up auf Tour, das in etwa dem ihrer erfolgreichsten Zeiten entspricht. Könntest du dir so was bei Overkill ebenfalls vorstellen?

Ich weiß nicht, darüber haben wir uns eigentlich nie Gedanken gemacht. Wir sind heute von der Bühne gegangen, und es hat sich einfach großartig angefühlt. Eine unserer Philosophien ist es, das Hier und Jetzt zu genießen und zu leben und nicht großartig über die Zukunft oder die Vergangenheit nachzudenken. Das hat uns geholfen, über 20 Jahre durchzuhalten. Wenn sich eine Möglichkeit wie das Rock Hard Festival bietet, ist es meiner Meinung nach wichtig, dass da fünf Leute rauskommen und Overkill sind. Wer diese fünf Leute sind, ist dabei eher nebensächlich. Wir leben eher nach dem Motto: "Seize the day, squeeze the shit out of every opportunity and get everybody sing FUCK YOU, buahahaha."

Das Interview führte Michael Edele

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