laut.de-Biographie
Patrice Rushen
Ohne sie hätte es Prince vielleicht gar nicht gegeben. Warner überlässt ihm 1977 ihm ein Budget. Er braucht es fast auf, ohne seine erste Platte fertig zu produzieren. Bis er Patrice Rushen trifft.
Obwohl ihre musikalische Heimat im Raum von Soul, Jazz und Disco liegt, schreibt Patrice Rushen ihre Songs selbst. Das Covern und Übernehmen männlicher Fremdkompositionen, von Billie Holiday über Aretha Franklin bis Mariah Carey vollkommen üblich, findet umgekehrt statt: Kollege Will Smith verwendet ein Sample aus Patrice Rushens Stück "Forget Me Nots" und landet damit einen Welthit: "Men In Black".
Im Alter von 23 Jahren läuft Patrice am 4. Januar 1978 im Sound Labs-Studio in Los Angeles dem damals 19-jährigen Prince über den Weg. Die beiden funken auf einer Wellenlänge, und die junge Rushen hilft dem 'Ich-mache-alles-selbst'-besessenen Prince Rogers Nelson bei einem Problem. Monatelang tüftelt er schon über der Programmierung von Synthesizern und stößt an seine Grenzen: "Ich war körperlich völlig erledigt, als die Platte fertig war", sagt er im Rückblick in einem seiner raren Interviews mit dem Printmagazin Musician.
Damit die Platte auch tatsächlich fertig wird, übernimmt Patrice Rushen die technischen Parts und werkelt an den neuen Geräten der Marken Moog, Arp und Oberheim, wobei Patrice und Prince letzteren Synthesizer zum Imitieren von Hörnern einsetzen. Im Song "Baby" setzt sich die gelernte Keyboarderin selbst an die Tasten und spielt die Special Effects ein, zu finden auf dem Debütalbum des späteren Mega-Stars.
Patrice Rushen selbst hat bis zu diesem Zeitpunkt sogar in so jungen Jahren schon 1976 ein "Best Of" auf dem Markt. Ihr Publikum: afroamerikanisch, Jazz-Freaks der gehobenen Mittelschicht. Die US-Gesellschaft und Hörerschaft spaltet sich zu dieser Zeit immer noch nach Hautfarben. Ein James Brown-Konzert in jener Ära wird entweder von einem dunkel- oder hellhäutigen Publikum besucht, je nach Spielstätte. Bill Withers vereint auf seinem Carnegie Hall-Konzert, zwar beide Zielgruppen. Doch Billboard misst die Charts getrennt, führt eigens die 'R & B-' und die 'Jazz-Charts', und dabei geht es nicht nur um Stilrichtungen.
Ein Erfolg im R'n'B-Sektor bedeutet oft auch, dass DJs in 'Clubs für Afroamerikaner' die Songs vermehrt auflegen und diese daher bei einem bestimmten Publikum bekannt sind. Jazz wiederum gelangt zu dieser Zeit überhaupt erstmals in Hände weißer Musiker, etwa durch Fusion-Gruppen wie Steely Dan. Patrice Rushen erreicht mit ihrem zweiten Werk "Before The Dawn" eine beachtliche Position 14 in den US-Jazz-Charts.
Ihre Alben arrangiert sie sehr wechselhaft und bewusst: edel, mit Flöte, Klarinette, Oboe und mehreren Saxophonen auf "Patrice" 1978, sehr physisch mit elf Leuten, die Handclapping beisteuern, auf "Shout It Out" 1976. "Let There Be Funk" lautet darauf die Schlüsselbotschaft in einem der Songs, hierfür experimentiert sie mit den Tastentönen des Minimoogs, einem sehr temperaturempfindlichen Gerät. Vor allem zur Produktion von kurzen Jingles eingesetzt, entdeckt Rushen den charmanten, warmen Sound dieses Apparats, einer Art Kombination aus Klavier und analog arbeitendem Computer.
Ihre beiden größten Hits folgen in den 80ern. "Haven't You Heard" gehört zum fünften Album "Pizzazz", einem Wortspiel aus 'Pizza' und 'Jazz'. Pizza steht für die Verwurstung aller möglichen Zutaten, Jazz aus Sicht der meisten Jazzkritiker (alles Männer) damals für das Pure, Elegante. Die 25-jährige Rushen kassiert eine Menge böser Reviews für die Platte, dafür erklimmt die Single aber Platz fünf der Dance-Charts und wird später unter anderen von Queen Latifahs Kumpels Zhané gesamplet.
Aus dem siebten Album koppelt Elektra, beflügelt vom allgemeinen Synthie-Pop-Hype, ihr Lied "Forget Me Nots" aus. Dieser Song aus dem Frühjahr 1982 bleibt der größte Erfolg für Patrice Rushen, in England Platz acht.
Doch die Zusammenarbeit des experimentierfreudigen Labels mit Lady Rushen endet nach der großartigen Platte "Now". Hierfür setzt sich Paulinho Da Costa, ein Jazz-Star aus Brasilien, an die Percussion. Von der Plattenfirma trennt sie sich, doch ihren Partner heiratet sie, 1986.
Rushen legt noch eine LP namens "Watch Out!" nach, lässt sich hierfür aber die meisten Songs auf einmal von anderen komponieren, etwa von Freddie Washington, der damals auch als Bassist für Whitney Houston arbeitet. Washington hatte auch die kennzeichnende Basslinie in "Forget Me Nots" gespielt. Diese Connection nützt ihr später für einen Auftritt im "Sex And The City"-Vorläufer-Film "Waiting To Exhale", 1995.
Überhaupt zieht es Patrice ins Film- und Fernsehgeschäft. So entwickelt sie eine TV-Comedy um eine fiktive Funk-Band namens "The Steve Harvey Show" und komponiert deren Musik. Die Serie läuft sechs Jahre lang im US-Fernsehen. Sie produziert mal einen Song für Sheena Easton, macht dies und jenes, doch aus dem Rampenlicht verschwindet die Frau mit dem charmanten, gewinnenden Lächeln allmählich, sie wird schwanger mit Sohn Cameron.
Hinter den Kulissen legt sie jedoch dann eine der größten Glanzleistungen der Soulgeschichte im 20. Jahrhundert hin: Sie zieht sie die Strippen bei einer teuren Veranstaltung, bei der auf keinen Fall etwas schief gehen darf. Janet Jacksons Welttournee 1993 bis '95 umfasst 123 Konzerttermine und Produktionskosten von fast zehn Millionen Dollar.
Hierzu gehören zahlreiche Kostümwechsel, eine sportliche Choreographie, kein Gig unter Stadiongröße, Support-Acts wie MC Lyte und Tony! Toni! Toné und eine wechselnde Setlist von um die 20 Tracks, mit den Höhepunkten "Rhythm Nation" und "That's The Way Love Goes".
Patrice Rushen behält als Direktorin des Projekts einen kühlen Kopf. Auch als Janet wegen Flüssigkeitsmangel ins Krankenhaus eingeliefert wird und auch als mehrmals Videomitschnitte mit großem Tam-Tam angefertigt werden, die nie zur Ausstrahlung kommen und auch nie als DVD erscheinen.
Mit dem Event qualifiziert sich Rushen für die künstlerische Leitung der Grammy-Verleihung – als erste Frau. Eine witzige Wendung, denn sie selbst hat die Trophäe trotz mehrerer Nominierungen nie erhalten.
Noch auf ihrem letzten Album "Signature", 1997, covert sie Sades "The Sweetest Taboo", die Platte erhält eine Jazz-Grammy-Nominierung, aber eben nicht den Preis. Doch wie die Ironie der Geschichte spielt, taucht genau in dem Moment, als sie vom Pop-Radar verschwunden ist, der Song "Forget Me Nots" wieder auf und bekommt für einige Jahre auch wieder vielfache Radio-Einsätze.
Die Ähnlichkeit zu Will Smiths "Men In Black" klingt unverkennbar heraus, ein gelungenes Sample der Rap-Geschichte. Den Text ändern Smith & Co. passend zum Plot des Kinofilms "Men In Black". Im Jahr 2004 kommt "Forget Me Nots" sogar noch einmal in die Top 100.
Rushen wendet sich von den Tonstudios ab, produziert zum Beispiel ein TV-Special über George Michael und komponiert etliche Soundtracks. Auch George Michael hatte für "Fast Love" Passagen aus "Forget Me Nots" genutzt. Rushen erlebt in den 90er-Jahren unzählige Sample-Anfragen von Shabba Ranks über Mary J. Blige bis R. Kelly.
Nach 2007 hört man kaum von ihr. Sie engagiert sich für die Musikvermittlung in Schulen an der US-Westcoast, doch viel mehr erfährt man über sie nicht mehr. In einem ausführlichen Radio-Interview meint sie 2012:
"Ich denke, dass es für alle Musiker aller Genres wichtig ist, zu wissen, dass ein Talent und das eine Ding nicht reichen. Den Mechanismus, nur als Musiker Musik zu machen, gibt es heute nicht mehr. Wir müssen die Musik machen, aufnehmen, promoten, verkaufen, rausgehen und die Musik spielen und alle möglichen Dinge ebenso tun, die mit dem Musikbusiness einhergehen: mit Leuten sprechen, einen Tourplan ausarbeiten."
"Das sind keine Skills, die automatisch in den Händen anderer Leute liegen müssen. Du musst bereit und willens sein, sie selbst auszuführen. Aber andererseits beansprucht das eine Menge Energie und Zeit und Bewusstsein für das, was du als Musiker alles brauchst: ein gewisses Ausmaß an Marketing, an Networking, Zugänglichkeit für andere Leute, Umgangsformen, eigene Ansichten artikulieren und solche Sachen."
Der japanische Keyboard-Hersteller Yamaha wirbt noch 2019 mit der amerikanischen R'n'B-Songstress als Aushängeschild für die Qualität seiner Produkte. Rushen gilt vielen im Musikgeschäft als harte Arbeiterin, die ihr Handwerk beherrscht.
Am 30. September 2019 feiert die Klarinettistin, Pianistin, Produzentin, Sängerin, Tourmanagerin und ehemalige Grammy-Direktorin ihren 65. Geburtstag. Das Funk-Label Strut kramt zu diesem Anlass 15 Aufnahmen aus dem Elektra-Fundus heraus, die sie besonders gut repräsentieren. "Remind Me" heißt die Compilation.
Von der umtriebigen Powerfrau können viele im Musikgeschäft noch lernen.